Das Geschenk

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von Egon Oetjen, http://www.egonoetjen.de

Es war einmal ein kleiner Junge. Ich möchte ihn hier ganz einfach Bernd nennen. Gerade nach dem großen Kriege geboren, wuchs er nun in einem kleinen Ort irgendwo in Norddeutschland auf. Bernd war gerade im zarten Alter von drei Jahren mit seinen Eltern in diesen Ort und in dieses Haus gezogen und er fühlte sich hier inmitten der Natur so richtig wohl, denn dieses Haus stand recht weit abseits der Straße, fast einen ganzen Kilometer inmitten von Feldern und Wiesen und ziemlich nah am Waldrand.
Mit seinen kleinen, kurzen und überaus zarten Beinchen hatte er die Umgebung recht schnell erkundet und tagein, tagaus war er unterwegs, um neue Erlebnisse und Abenteuer zu bestehen. Oft bekam er von seiner Mutter den Auftrag, doch mal zum Bäcker oder zum Krämer in den Nachbarort zu laufen, um Kleinigkeiten einzukaufen.
"Der Krämer soll anschreiben", sagte die Mutter dann. "Sag's ihm, ich komme am Montag und bezahle!" rief sie ihm nach. Bernd lief dann los, die vier Kilometer zum Krämer und auch vier Kilometer zurück. Dabei musste er bis zur Hauptstrasse den langen Sandweg entlang laufen. Von da an benutzte er dann den sogenannten Pferdeweg, der parallel der Straße lief, dort, wo früher einmal die Pferdefuhrwerke ihren Weg hatten, damit sie nicht das holprige Klinkerpflaster benutzen mussten. Auf diesem Weg war Bernd so einigermaßen sicher, obwohl hier zu dieser Zeit noch relativ wenig Verkehr herrschte.
Dieser weite Weg machte ihm fast gar nichts aus, denn er war seiner Mutter gerne behilflich. Sie hatte es wahrlich schwer, denn Vater brachte nicht allzu viel Geld nach Hause. Er trank und oft hatte Bernd seinen im Rausch erzürnten Vater erlebt, wenn dieser wieder einmal wie so oft betrunken nach Hause kam.
Bernd verstand die Sorgen seiner Mutter, half ihr, wo er nur konnte und bettelte nicht und fragte nie nach Geld. All seine Freunde hatten immer etwas Geld in der Hosentasche und es tat ihm weh, wenn einer seiner Freunde sich beim Krämer eine Stange Sahnebonbons kaufte. Fünf Pfennig für fünf leckere Sahnebonbons, das konnte Bernd sich nicht leisten.
Ging er aber zum Krämer, so konnte es passieren, das er einen Bonbon geschenkt bekam, schon aus diesem Grunde machte er diesen langen Weg gern.
Dann stand der kleine blondgelockte Knabe vor dem hohen Tresen und schaute mit seinen blauen Kulleraugen hoch zum Krämer. Er wartete artig, bis er an der Reihe war und schob dann mit seinen dünnen Ärmchen den Zettel, den Mutter ihm mitgegeben hatte, hoch auf die gläserne Ablage. Dabei musste er sich richtig strecken, so dass ihm immer das Hemd aus der Hose rutschte. Mutter hatte an dieses Hemd, welches ihm eigentlich schon längst zu klein war, einen breiten Streifen Stoff genäht. Nun passte das Hemd wieder für ein Jahr, nur Bernd schämte sich, wenn dieser andersfarbige Stoff zu sehen war.
Bei jedem dieser Besuche beim Krämer hoffte er inniglich, dass er einen Bonbon bekommen würde, obwohl, ganz, ganz viele seiner langen Wege waren vergeblich, denn Bonbons gab es meistens nur, wenn er Geld von Muttern dabei hatte und den Einkauf gleich bezahlte.
Es gab zwei Dinge auf seinem Weg ins Dorf, die ihn in seinem tiefsten Innern berührten, eine positive und eine negative Sache. Fast am Ende des langen Sandweges, kurz bevor dieser auf die Hauptstrasse mündete, war ein großer Bauernhof, Bernds liebster Aufenthaltsort, denn ersten war es auf einem Bauernhof wahnsinnig interessant und zugleich wohnte dort sein Freund, den er eines Tages auf einem seiner Streifzüge kennengelernt hatte.
Pferde, Kühe, Schweine und Schafe gab es auf diesem Hof. Das Interessanteste waren aber die vielen Maschinen, angefangen vom Pflug, Egge und Traktor. Wahnsinnig spannende Sachen waren das und Bernd stand so manches Mal vor diesen Dingen und war fasziniert.
Doch es gab leider auch das Negative in diesem Ort, jedenfalls in Bernds Augen und das befand sich genau gegenüber dieses Bauernhofes auf der anderen Seite des Sandweges. Hier waren auf einem Grundstück hölzerne Baracken gebaut worden, um Wohnraum für all die vielen Flüchtlinge zu schaffen, die nach dem Kriege in diesen Ort gekommen waren.
"Flüchtlinge? Was sind Flüchtlinge?" hatte Bernd eines Tages seine Mutter gefragt. Sie hatte versucht, es ihm zu erklären, doch genutzt hatte es nicht viel, denn in seinen Augen blieben es fremde, andere Menschen, Menschen, die nicht so waren wie er, wie sein Vater, wie seine Mutter, eben nicht so wie all die anderen Menschen hier in diesem Ort.
Jedes Mal, wenn Bernd auf seinem Gang in den Nachbarort dann an diesem Barackenlager vorbeimusste, vermied er es, dort bewusst seinen Blick hinzurichten, hielt meistens seinen Kopf gesenkt, schielte mit nur einem Auge zu dem Hofplatz dieses Lagers, denn dort schien sich das Leben dieser Menschen abzuspielen.
Ein rechteckiger Platz mit einer schwarzlackierten Schwengelpumpe mitten drauf, an der sich die Lagerbewohner mit frischem Wasser versorgen konnten. Jede Baracke, dunkelgrün gestrichen, hatte etwas unheimliches an sich. Wohl an die zwanzig Baracken standen hier. Wie viele Menschen aber darin wohnten, blieb für Bernd ein Geheimnis.
Je näher er auf seinem Gang zum Krämer diesem, für ihn unheimlichen, Lager kam, umso mehr drosselte er seinen Schritt. Richtig zögerlich, so, als erwarte er einen Angriff, drückte er sich auf der anderen Wegseite an der Einfahrt zum Lager vorbei. Sobald er aber diese Einfahrt erreicht hatte, wurden seine kurzen Beine wieder schneller und man hätte wohl meinen können, dass er jedes mal tief Luft holte, so als wäre er froh, dieses geschafft zu haben.
So blieb dieses Lager ein ewiges Auf und Ab in Bernds Gefühlen. Wieso, konnte er allerdings nicht beantworten. Er mochte es einfach nicht. Allerdings sollte sich das schon in naher Zukunft ändern.
Achim, ein Junge aus der direkten Nachbarschaft, war Bernds bester Freund geworden. Natürlich gab es hier und da Meinungsverschiedenheiten, doch die wurden, wie bei Jungen so üblich, in einem kurzen Ringkampf beigelegt. Oft genug gab es Tage, wo am Hemd oder an der Jacke ein Knopf fehlte, der bei einer Rangelei verloren ging. Schlimmer war es jedoch, wenn ein Kleidungsstück dabei zerrissen wurde. Dann gab es einen Klaps an die Ohren und die Sache war fast vergessen. Fast, denn meist gab es diesen Klaps, - oder auch zwei, in aller Öffentlichkeit, also so, dass der Freund zugucken konnte und das war schrecklich. Oh, diese entsetzliche Schmach.
Natürlich glich sich dieses wieder aus, denn bei Achim war es nicht besser. Auch der bekam seine Streicheleinheiten.
Es ging wohl schon auf Weihnachten zu. Heiligabend und der Tannenbaum, ein Fest wie viele andere. Wieso das so etwas besonderes sein sollte, konnte er nicht begreifen. Sein Freund Achim war schon seit Tagen ganz aufgeregt und hatte immer nur dieses eine Thema: Geschenke. Bernd aber interessierte das gar nicht so. Auch bei allen Nachbarn, die er so im Laufe der Wochen vor dem Fest besuchte, wurde gebastelt und gewerkelt. Kuchen wurde gebacken, Geschenke verpackt.
Natürlich gab es bei ihm zu Hause auch einen geschmückten Baum, jedoch, was die Geschenke und den Kuchen und andere Dinge anging, die eben zu einem solchen Fest gehörten, davon war in diesem Hause nichts zu merken.
Bernds Vater hatte wieder einmal das wenige Geld, welches er mit Aushilfsarbeiten während der Wintermonate verdiente, lieber in die Kneipe getragen, anstatt an die Familie zu denken. So konnte Bernd von schönen Geschenken nur träumen.
"Möchtest du mitkommen? Ich gehe mit meinen Eltern zur Weihnachtsfeier!", fragte ihn Achim eines Tages in der Adventszeit und riss ihn mit dieser Frage aus seinen kindlichen Gedanken. "Wir gehen ins Lager, dort wird heute abend gefeiert. Kannst ja mitkommen, wenn du Lust hast!"
Der kleine Bernd war hin und hergerissen in seinen Gefühlen. Eine Einladung in dieses Lager? Nein, das konnte er nicht annehmen. Oder doch? Dieses so unheimliche Flüchtlingslager sollte er nun kennen lernen? Diese Menschen? Wer weiß, was ihn dort erwarten würde?
"Ach, komm doch mit!", bat ihn Achim noch einmal und auch Achims Mutter bestärkte Bernd darin, doch mitzukommen. "Kannst wirklich gerne mitgehen", sagte sie.
Bernd war überredet. Mutter hatte ihm die besten Sachen zum Anziehen hingelegt. Sein buntes Hemd, den kleinen Pullover, die gute Anziehhose und, - natürlich, die lange wollene Unterhose! Oh, wie hasste er diese Hose. Die kratzte doch so fürchterlich! Naja, Mutter hatte immer Recht und so hatte es überhaupt keinen Zweck für Bernd, sich gegen dieses schreckliche Folterinstrument aufzulehnen.
Mit Widerwillen streckte er sich in diese Hose und, - ob er es wollte oder nicht, seine kleinen Zehen bogen sich wie im Bogen, der eine hoch, der andere runter. Ganz automatisch! Alles sträubte sich gegen diese blöde Hose. Trotzdem schaffte Mutter es immer wieder, ihm dieses kratzige Monstrum anzuziehen. Die Ringelsocken, bis zu den Knien hochgezogen. Schrecklich! Und dann die Schuhe! Schon zwei Nummern zu klein, wurden die schmalen Füße in diese Folterinstrumente hineingezwängt, so dass ihm nach spätestens zehn Minuten die Füße wehtaten. Die kleinen Ballen schmerzten. Zum Schluss die Krönung, der Mantel. Den hatte Mutter aus einem alten Militärmantel geschneidert. Der Saum war nicht so ganz gerade, aber dafür hielt er doch schön warm. Dicke braune Knöpfe hielten ihn zusammen. Nicht zu vergessen wäre der Schal. Natürlich kratzte auch der, wie fast alles damals. Die selbstgestrickten Handschuhe angezogen und schon konnte die Exkursion ins Ungewisse starten.
Es dämmerte schon, als sich die Nachbarsfamilie zu Fuß auf den Weg machte. Bernd hielt sich immer dicht an Achims Seite, platzierte sich zwischen Achim und dessen Vater. So konnte ihm mit Sicherheit nichts passieren, obwohl, selbst vor der stockfinstersten Nacht hatte er keine Angst. Dieser Gang war aber ganz was anderes, es war der Gang ins Lager und das war schon was ganz Besonderes.
In dieser Formation kamen sie nach einer guten viertel Stunde Fußmarsch im Lager an. Es ging quer über den Platz zu der größten Baracke, die hier stand. Achims Vater öffnete eine quietschende Holztür, hinter der eine dicke Wolldecke aufgehängt war. "Diese Decke hängt hier bestimmt, damit es nicht so zieht", dachte Bernd, denn es war richtig kalt in diesem Raum. Obwohl, dort in der Ecke stand ein alter Ofen, aus dem es ab und zu qualmte. Immer dann, wenn wieder einmal die Eingangstür geöffnet wurde, kam eine kleine Qualmwolke durch die Ritzen des Ofens.
Bernd wurde in diesem riesigen Raum ein Platz zugewiesen. Direkt neben Achim konnte er sitzen. So fühlte er sich auch ein klein wenig geborgen, denn immer mehr Menschen betraten den Raum, der vielleicht so vier mal fünf Meter groß war. In Bernds Augen war dieses aber ein riesiger Saal.
An den Fensterscheiben zeichneten sich die ersten Eisblumen ab. Die Decke und Wände waren mit einfacher Kalkfarbe getüncht und in den Ritzen der hölzernen Decke fehlte hier und dort schon die Farbe.
Jedes mal, wenn wieder einmal die Tür aufging, kam ein Schwall kalte Luft herein. Bernd fröstelte, vielleicht aber auch nur wegen der Ungewissheit über das Kommende.
Immer mehr Menschen kamen herein und irgendwann war der Raum gefüllt und alle Bänke besetzt. Dann geschah etwas unbegreifliches. So, als wäre er in Trance, stand Bernd von seiner harten, hölzernen Bank auf und ging in die Ecke gleich neben der Eingangstür, wo man einen Weihnachtsbaum aufgestellt hatte. Wie angewurzelt stand er vor diesem wunderschön geschmückten Gebilde. So etwas schönes hatte er noch nie gesehen. Fasziniert starrte er auf die geschmückten Zweige. Kleine Glöckchen hingen daran und jedes Mal, wenn irgendjemand den Raum betrat, wurden diese Glöckchen vom Windzug hin- und her geschaukelt und gaben einen feinen Klingelton von sich.
Kleine, zierliche Vögelchen aus feinstem Glas mit einem langen Schwänzchen aus Glasfaser waren mit einer Klemme an den Zweigen befestigt. Sogar Kerzen waren an diesem Baum befestigt und qualmten vor sich hin.
Das tollste und faszinierenste an diesem Baum war aber das Lametta. Lametta? Sauerkraut hing in den Zweigen. Getrocknetes Sauerkraut, weil kein Lametta vorhanden war.
Bernd stand vor diesem Baum. Irgendjemand rief ihn leise. Er reagierte nicht. Dann stand endlich jemand auf, ging zu ihm und tippte ihm ganz vorsichtig auf die Schulter. Richtig erschrocken zuckte er zusammen, drehte sich um, verbeugte und entschuldigte sich und ging fast auf Zehenspitzen zu seiner Bank. Achim lächelte.
Ein Mann in einer feierlichen Robe und einer farblich abgesetzten Schärpe stand auf und stellte sich vor die erste Reihe der Gäste. Er hielt ein dickes, aufgeschlagenes Buch in den Händen. "Was will der?", fragte sich Bernd, "wieso dreht der uns den Rücken zu? So etwas macht man nicht, das ist ungezogen!" Wenn man sich mit irgendjemand unterhielt, schaute man die Person auch an. So hatten es ihm seine Eltern beigebracht.
Diese Person in dem weißen Umhang, so hatte Bernd dieses Kleidungsstück in der Zwischenzeit ausgemacht, blieb aber so, mit dem Gesicht zur Wand und dem Rücken den Rücken den Gästen zugewandt stehen, sprach ein paar Worte und drehte sich schließlich doch den Besuchern zu.
Ein Lied wurde angestimmt. Für Bernd eine ganz neue Erfahrung, denn für Musik war bei ihm zu Hause kein Platz. Und doch, er kannte Musik. "Kleine Fralbe, fieg nach Heldoland", hatte er früher immer singen müssen, wenn Vater das wollte. Immer, wenn sie irgendwo zu Besuch waren, musste er dieses Lied singen. Meist hielt Vater ihn beim Singen auf dem Arm, alle sollten ihn sehen, wenn er dieses Lied sang. Als Vorzeige - Kind fühlte er sich so manches Mal.
"Kleine Schwalbe, flieg nach Helgoland", ein Hit in damaligen Zeiten, nur konnte Bernd diese Worte nicht richtig aussprechen. Er plapperte die einzelnen Verse nur nach.
Nun saß er hier auf dieser harten Bank mit gesenktem Kopf und versuchte, so gut er konnte, jedenfalls die Melodie mitzusummen. Achim neben ihm sang zwar auch nicht schön, dafür aber laut.
Wieder ein Gedicht, welches alle Besucher alle zusammen aufsagten. "Die haben das wohl alle auswendig gelernt", dachte Bernd. Er verhielt sich jedenfalls wie zuvor bei diesem Lied und tat so, als mache er beim Versereimen tüchtig mit. Wie sollte er auch wissen, dass dieses Gedicht ein Psalm aus dem Testament war. Nie hatte es ihm auch nur einer gesagt.
"Kennen die aber viele Lieder", dachte er, nachdem das nächste Lied angestimmt war. Offenbar war es ein Lied über diesen Weihnachtsbaum, denn aus allen Kehlen klangen die Worte "Oh, Tannenbaum, oh, Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter".
Bernd saß inzwischen sturmerprobt, nichts konnte ihn mehr erschüttern, auf seiner Bank und brummte. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Er erschrak. Ein Mann mit einer Kapuze, einem alten Umhang und einem angeklebten Bart, man sah es ganz deutlich, betrat mit einem lauten Poltern den Raum. Einen alten, zerfledderten Sack trug er auf dem Rücken, den er vorne im Raum vor der versammelten Gästeschar absetzte.
Der andere Mann, der, der eben noch die Gedichte vorgetragen hatte, hatte sich in der Zwischenzeit gesetzt. Der mit dem alten Umhang und Kapuze erzählte eine kleine Geschichte und zeigte schließlich auf ein Kind in der ersten Reihe. Dieses Kind, ein kleines Mädchen ähnlichen Alters wie Bernd, stand auf. Der alte Mann bückte sich, fummelte in seinem zerschlissenen Sack herum und holte ein kleines Geschenk hervor.
Das Mädchen nahm wieder Platz. Ein weiteres Kind wurde aufgerufen. Das Procedere wiederholte sich. Irgendwann war der verkleidete Mann mit seinen Aufrufen bei Bernd angelangt. Ungläubig schaute der nun in die Runde und blieb wie angewurzelt sitzen. Erst als Achim ihm einen Schubser in die Seite gab, stand er auf, guckte nach links und rechts und ging nach vorne.
Mit zitternden Händen nahm er nun "sein" Geschenk entgegen, eine kleine Holz - Eisenbahn. Die Lok mit dickem Bauch, mit Führerhaus, schwarzem Schornstein und drei Waggons lagen nun in seinen kleinen Händen. Krampfhaft hielt er dieses Spielzeug, sein erstes Geschenk, mit seinen kleinen Fingern fest.
Wie ein Häufchen Elend saß Bernd auf seiner Bank und wusste nicht, wie ihm geschah. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wieso bekam er ein Geschenk? Wieso schenkten ihm diese fremden Menschen etwas. Was wollten diese Menschen von ihm? Wieso bekam er, obwohl er doch nicht das Kind von Flüchtlingen war, etwas geschenkt. Wieso, warum?
Den Rest dieser Weihnachtsfeier bekam er gar nicht mehr mit. Gedanklich war er immer noch mit diesem Geschenk beschäftigt. So interessierte ihn auch nicht mehr das letzte Lied, welches nun gesungen wurde. Erst als Achim ihn aus seinen Gedanken riss, schaute er sich um und bemerkte, dass die Ersten bereits den Raum verlassen hatten.
Achims Mutter reichte ihm seinen kleinen Lodenmantel, den Schal, Mütze und schließlich seine Handschuhe. Bernd zog sich die Sachen an, dann machten sie sich gemeinsam wieder auf den Heimweg.
Es war stockfinster, als Bernd mit seinem Geschenk zu Hause ankam. Stolz präsentierte er seine Holz - Eisenbahn auf dem Küchentisch. Seine Mutter freute sich. Ihr standen Tränen in den Augen. Verschämt senkte sie den Blick und wischte verlegen mit einem Lappen über die Tischkante. Vor lauter Freude ging Bernd zu seiner Mutter und umarmte sie. Nur sein Vater, der an diesem Abend wieder vom Alkohol genossen hatte, saß mit verklärtem Blick auf der anderen Seite am Tisch und machte eine Bemerkung, die Bernd aber nicht verstand.
Wie so vieles in dieser Zeit verstand Bernd nicht seinen Vater, der sich wohl schämte, dieses aber nicht zeigen konnte und mochte. Bernd verstand auch nicht die Tränen seiner Mutter. Er war ganz einfach ein Kind!
Rund dreißig Jahre behielt Bernd dieses Geschenk, welches er im Jahre 1953 erhalten hatte, in Ehren. Dann ging diese kleine Holzeisenbahn aus unerfindlichen Gründen verloren. Nach und nach fehlten zuerst die Lok und anschließend die Waggons.
Dieses kleine Geschenk, damals von fremden Menschen an einem kalten Dezemberabend im Jahre 1953 überreicht, hat aber bis heute seine Wirkung nicht verloren, denn bis zum jetzigen Tage hat der heute erwachsene Bernd, selbst schon Vater und Großvater, sich immer gemerkt, dass man mit winzig kleinen Geschenken eine ganze Menge Freude bereiten kann.
Denn, so sagt er sich, wenn wir es nur wollen, ist Weihnachten das ganze Jahr an jedem Tag!