Der kleine Engel Lili
© Brigitte Kemptner
Lili fühlte sich so überflüssig wie schon lange nicht mehr. Überall, wo der kleine Engel auftauchte, schickte man ihn wieder fort. In der himmlischen Küche zum Beispiel wurden fleißig Plätzchen gebacken. Als Lili die Tür öffnete, atmete ihr feines Näschen das würzige Aroma von Honig und Mandeln ein. „Wie wundersüß das duftet“, dachte sie und ging näher. Da stellte sich ihr ein großer Engel in den Weg: „Stör uns bitte nicht beim Backen, Lili, bis Weihnachten müssen wir nämlich fertig sein.“
Dabei wollte Lili doch nur helfen und keineswegs stören.
Auch in der Spielzeugwerkstatt herrschte geschäftiges Treiben. Die Engel waren so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie Lili zuerst gar nicht bemerkten, die ihnen mit glänzenden Augen zuschaute. „Hier würde ich auch gerne helfen“, sprach sie leise vor sich hin und stellte sich neben einen älteren Engel, der gerade eine Puppenwiege zusammenbaute. „Darf ich dir zur Hand gehen?“, fragte Lili. Der Engel blickte von seiner Arbeit hoch.
„Nein! Das ist noch keine Aufgabe für dich. Gehe spielen und störe nicht, bis Weihnachten müssen wir fertig sein.“
So ging es den ganzen Vormittag. Überall wurden Weihnachtsvorbereitungen getroffen und Lili war im Wege. Ihr fiel der Weihnachtsmann ein. „Zu ihm werde ich gehen“, dachte sie erfreut, „er wird mich nicht fortschicken, sondern froh über jede helfende Hand sein.“
Wenig später hatte Lili das Reich des Weihnachtsmannes erreicht. Aber oh weh, was war das für ein Tumult dort? Das große Tor zur Eingangshalle stand weit offen und Lili konnte ungehindert eintreten. Laute Stimmen drangen ihr in einem wirren Durcheinander entgegen. Was da wohl geschehen sein mochte?
Lilis Augen suchten den Weihnachtsmann. „Ihm ist doch hoffentlich nichts zugestoßen! Das wäre ja furchtbar“, dachte sie und ließ ihre Blicke umherschweifen. Dabei bemerkte sie einige Erzengel und den guten alten Petrus, den Freund des Weihnachtsmannes. Das bestärkte den kleinen Engel in seiner Vermutung, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sein musste.
Da, endlich hörte Lili die vertraute tiefe Bassstimme des Weihnachtsmannes: „Bitte Ruhe! Alle mal zuhören. Seid doch jetzt still, sonst muss ich ja so schreien, damit ihr versteht, was ich zu sagen habe.“
Und dann herrschte plötzlich Stille und alle Blicke waren auf den Weihnachtsmann gerichtet. Lili schlüpfte weiter nach vorn und war froh, dass keiner sie wahrnahm.
„Meine lieben Engel“, begann der alte Herr mit seiner Rede. „Auf der Erde lebt die kleine Lena und seit heute Morgen ist sie ohne Schutzengel.“
Ein Raunen ging durch die Reihen.
„Ihr stimmt mir doch sicher zu, dass dies einfach unmöglich ist, weil kein Mensch ohne Schutzengel sein sollte, vor allem nicht die Kinder.“
Wieder ein Raunen und ein mehrstimmiges „Wie recht du hast, Weihnachtsmann!“
„Und warum hat dieses Kind keinen Schutzengel mehr?“, wollte ein Engel in der vorderen Reihe wissen.
Der Weihnachtsmann räusperte sich und sprach weiter: „Weil Lenas bisheriger Schutzengel nicht mehr der jüngste ist und dieses Amt ohne vorherige Absprache mit einem der Erzengel oder mit mir niedergelegt hat. Er möchte die Verantwortung für ein kleines Kind nicht länger tragen und lieber hier im Himmel eine leichtere Aufgabe übernehmen. Deshalb habe ich euch sofort gerufen, um für Lena einen neuen Schutzengel zu bestimmen. Wir dürfen keine wertvolle Zeit verlieren.“
„Kannst du uns etwas über Lena erzählen?“, fragte Petrus.
„Sicher, mein Freund. Lena ist vier Jahre alt und hat ein krankes Herz. Ihre Eltern sind ständig in großer Sorge, dass das lebhafte Mädchen sich im Umgang mit anderen Kindern zu sehr überfordern könnte. Deshalb darf Lena auch nicht in einen Kindergarten, obwohl das ihr größter Wunsch ist. Vor einer Stunde wurde das Kind in die Klinik gebracht. Lena braucht also dringend einen neuen Schutzengel. Wer von euch möchte diese Aufgabe übernehmen?“
Noch bevor irgendjemand sich melden konnte, schlüpfte Lili nach vorne und blieb vor dem Weihnachtsmann stehen. „Ich!“, rief sie laut und ihr Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran offen, dass sie es ernst meinte.
Der Weihnachtsmann lächelte gütig, sagte aber mit fester Stimme: „Du, Lili? Wie kommst du darauf, dass meine Wahl auf dich fallen könnte? Und was hast du überhaupt hier zu suchen? Für das Amt eines Schutzengels bist du noch viel zu jung und unerfahren. Das siehst du doch hoffentlich ein.“
Lili schüttelte den Kopf. „Nein. Das sehe ich nicht so. Warum dürfen wir kleinen Engel nicht ebenfalls Schutzengel sein? Ich möchte so gerne auf Lena aufpassen.“
„Diese Verantwortung ist viel zu groß. Wenn du noch ein paar Jahre älter bist, können wir wieder über dieses Thema sprechen. Aber …“
Der Weihnachtsmann hielt inne, als er die erhobene Hand des Petrus sah. „Was gibt es?“, fragte er.
„Warum versuchen wir es nicht mit Lili, lieber Freund? Zugegeben, sie ist noch recht jung, aber sehr pflichtbewusst und zuverlässig. Es kommen niemals Klagen über sie an meine Ohren und auch Erzengel Michael, der unter anderem auch noch die Aufsicht über die kleinen Engel hat, ist voll des Lobes. Vor allem liebt Lili Kinder sehr.“
Der Weihnachtsmann überlegte, dann wandte er sich an die anderen. „Was meint ihr?“, fragte er. „Wir dürfen nicht allzu lange mit unserer Entscheidung warten.“
Ein Tuscheln ging durch die Reihen und dann meldete sich ein Engel: „Wir denken, dass Lili eine Chance verdient hat, auch wenn es ungewöhnlich ist, einem so jungen Engel schon eine solche Verantwortung aufzubürden.“
„Gut“, sagte der Weihnachtsmann und schaute Lili an, „aber ich werde einen der älteren Engel anweisen, dich im Auge zu behalten, um im Notfall an deiner Seite zu sein. Das bin ich dem kranken Kind schuldig.“
Wenig später, als alle Engel gegangen waren, trat der Weihnachtsmann vor sein großes Fernrohr und winkte Lili herbei. Gemeinsam blickten sie hinunter zur Erde. „Schau einmal, in dieser Stadt wohnt Lena. Und dort ist das große Krankenhaus“, erklärte ihr der Weihnachtsmann. „Warte, gleich werfen wir einen Blick in Lenas Zimmer.“
Nachdem Lili das Mädchen gesehen hatte, sagte der Weihnachtsmann: „Jetzt begib dich auf den Weg. Mach deine Arbeit gut, damit Lena zu Weihnachten in einer Woche wieder zuhause ist.“
Froh, endlich eine Aufgabe zu haben, machte sich Lili auf ihre Reise zur Erde. Es hatte angefangen zu schneien und als sie wieder auf festem Boden stand, lag dieser unter einer dicken Schneedecke. Lili hatte keine Zeit, den Kindern zuzuschauen, die fröhlich und lachend Schlitten fuhren oder einen Schneemann bauten. Lena wartete und der kleine Schutzengel wollte den Weihnachtsmann nicht enttäuschen, der ihr diese große Chance gegeben hatte.
Wie ein sanfter Windhauch schwebte Lili bald darauf über die langen Korridore der Klinik und dann stand sie schließlich vor Lenas Bett. Die Kleine sah so zart und zerbrechlich aus, dass es Lili ins Herz schnitt. Das Gesicht war blass und die Augen geschlossen. Auf einer Ablage über dem Bett stand ein Monitor, der die einzigen Geräusche im Zimmer verursachte. Und mit diesem Monitor war Lenas Herz durch ein paar Kabel verbunden.
Lili beugte sich behutsam zu dem Mädchen hinunter und hauchte einen Kuss auf Stirn und Wangen. Danach nahm sie die zarte Hand Lenas in ihre und sprach ihr Mut zu. „Kämpfe, kleines Herz! Du wirst bald wieder gesund sein. Ich bin Lili, dein neuer Schutzengel, und ich werde immer auf dich achtgeben.“
Nach einiger Zeit ging die Zimmertür auf und Lenas Eltern kamen in Begleitung des Arztes herein. Nach einem kurzen Blick zum Monitor, auf dem Lenas Herzschläge aufgezeigt wurden, machte der Doktor ein erfreutes Gesicht. „Wie ich sehe, geht es unserer kleinen Patientin schon besser und das Herz hat sich erstaunlicherweise schneller wieder beruhigt als ich dachte. Ich möchte Lena aber lieber noch für ein paar Tage hierbehalten.“
„Und wann kann sie endlich operiert werden?“, fragte Lenas Mutter.
„Im Januar, falls keine weiteren Infektionen wie Husten oder Schnupfen dazwischenkommen“, antwortete der Arzt.
Lili hörte den Menschen aufmerksam zu, während sie Lenas Hand festhielt. Viel später in der Nacht wachte sie immer noch über dem Kind und auch in den folgenden Tagen wich Lili nicht von Lenas Seite. Inzwischen durfte das Mädchen schon aufstehen. Die Mutter kam täglich zu Besuch, spielte mit ihrer Tochter oder las ihr Geschichten vor, die Lili auch gefielen. Der kleine Schutzengel hatte Lena fest ins Herz geschlossen und ließ sie keinen Moment aus den Augen.
Am Heiligen Abend durfte Lena endlich nach Hause. Es ging ihr wieder so gut, dass sie am liebsten mit den Nachbarkindern, die gerade draußen waren, gespielt hätte. Aber das erlaubte die Mutter nicht. Lili beobachtete die zwei Buben und sah, wie einer von ihnen einen dicken Schneeball formte und ihn in Lenas Richtung warf. „So ein Schlingel“, dachte Lili, fing den Schneeball ab und warf ihn im hohen Bogen gegen die Hauswand, wo er kleben blieb. Die Buben machten große Augen und als Lili einen Schneeball machte und den ebenfalls an die Hauswand warf, rannten die Kinder so rasch ins Haus, als wäre der Nikolaus hinter ihnen her.
Um Lilis Lippen spielte ein Lächeln. Sie würde ihre Rolle als Schutzengel sehr genau nehmen und alles von Lena fernhalten, was ihrer Gesundheit schaden könnte.
Als Lena nach einer wunderschönen Bescherung im Kreis ihrer Familie im Bett lag und friedlich schlief, flog Lili kurz ins Himmelreich, um ihren Freunden und dem Weihnachtsmann ein frohes Fest zu wünschen.
„Ich bin sehr stolz auf dich, Lili“, sagte der weißhaarige Mann. „Du hast deine Aufgabe bisher gut gemeistert und mich nicht enttäuscht.“
Lilis Gesicht strahlte vor Freude über dieses Lob. „Dann darf ich also weiter auf Lena aufpassen? Sie soll bald am Herz operiert werden und vielleicht wird ihr größter Wunsch, mit anderen Kindern zu spielen, dann doch noch wahr werden.“
„Das wünsche ich mir auch“, sagte der Weihnachtsmann. „Ich will hier oben immer für sie beten, doch jetzt geh und lass Lena nicht zu lange allein.“
Das ließ sich Lili nicht zweimal sagen und machte sich frohen Mutes auf den Weg zur Erde.