Der Wunschzettel

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oder Die Weihnachten des Herrn K

© Nightwriter - Weihnachten 2002

Weihnachten steht vor der Tür. "Wolln mers reilassa?" würde der Kölner Jäck fragen. Aber das ist gar nicht nötig.
Weihnachten kommt ganz von selbst herein. Durch den Briefschlitz. In Form von bunten, glitzernden Prospekten, die uns sagen, was sich die Menschen wünschen, die uns am Herzen liegen. Und natürlich was wir selbst noch kaufen müssen, um endlich glücklich zu sein. Solche Prospekte erreichten auch den Briefkasten des Herrn K. Herr K ist Rentner, und gilt allgemein als komischer Kauz. Seit seine Frau Anni vor zwei Jahren gestorben war, entwickelte er sich zudem noch zu einem recht stillen Menschen. Selten begann er ein Gespräch von sich aus. Da er aber immer freundlich und hilfsbereit war, mochten ihn die Leute. Eine seiner Eigenarten die niemand verstehen konnte war, dass ihm materielle Dinge wenig bedeuteten und er insgesamt sehr zufrieden war. Und das, obwohl er fast nichts von den Sachen, die zum Glücklichsein doch so notwendig sind, besaß. Natürlich schätzte er so manches, was das Leben angenehmer machte wie z.B. seinen vollautomatischen Korkenzieher, oder sein Weinthermometer. Ansonsten war Herr K ein bescheidener Mensch. Er konnte sich an Dingen erfreuen die andere gar nicht mehr beachteten, weil sie diese für selbstverständlich hielten.
Eines Abends im Dezember ging Herr K wieder einmal seiner Lieblingsbeschäftigung nach. Er saß am Kamin und schlürfte ein Glas Rotwein. Heute waren nur drei Weihnachtsprospekte im Briefkasten. Da er nichts besseres zu tun hatte, sah er sie durch. Kaufen und sparen - stand auf einem. "Toll, wie viel man sparen kann - wenn man nur genug Geld dafür ausgibt" dachte Herr K amüsiert. "Und diese Gewinnspiele. Mit den phantasievollen Preisen. Ein Auto! Klasse, endlich mal was neues. Autos sind selten zu gewinnen." gluckste Herr K und goss noch etwas Wein in sein Glas, das sich - von ihm gänzlich unbemerkt - geleert hatte. Doch dann sah er etwas, das nun wirklich neu war. Kein "Sie haben bereits gewonnen"-Los, kein "Sofort absenden und sparen"-Gutschein. Nein, es war ein Wunschzettel.
"Na endlich mal eine neue Idee. Hat doch glatt was" murmelte Herr K vor sich hin und sah sich das Ganze genauer an. Es begann ihn zu interessieren. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich auch dies als ein Gewinnspiel. Allerdings war kein fixer Gewinn vorgegeben. Mann durfte einen Wunschzettel ausfüllen und dem Gewinner wurden seine Wünsche erfüllt - bis zu einen Betrag von maximal 500.000 Euro - stand darauf. "Hmm, schon komisch, das anscheinend alle Wünsche der Menschen immer mit Geld zu tun haben" wunderte sich Herr K. Er begann über sich und die Menschen nachzudenken. Vielen auf der Welt geht es schlecht. Natur- und Hungerkatastrophen, Verbrechen und Kriege überall. Er hingegen hatte alles, was er zum Leben brauchte und noch einiges mehr. Und die meisten Menschen in seinem Land hatten noch viel mehr als er. "Was wollen wir denn NOCH mehr" fragte er sich und goss sich etwas von dem Wein nach, von dem man sagt, das in ihm die Wahrheit läge. Schon beim nächsten Schluck schoss ihm ein neuer Gedanke durch den Kopf: "Aber natürlich" freute er sich "Oh ja, ich werde bei diesem Gewinnspiel mitmachen. Ich werde diesen Wunschzettel ausfüllen." beschloss er. Und dies war nun wirklich ungewöhnlich, weil Herr K nämlich die Konsumwelt im Allgemeinen und Preisausschreiben im Besonderen hasste. Aber hier wollte er mitspielen, weil er auf einmal ganz genau wusste, was er sich wirklich zu Weihnachten wünschte. Und genau dies würde er auf diesen Wunschzettel schreiben. Nicht MEHR von allem, nein - WENIGER wollte er.
Und er begann den Zettel auszufüllen.
- WENIGER Kriege und Verbrechen
- WENIGER Kinder, die verhungern müssen
- WENIGER kleine Jungs, die in den Krieg geschickt werden
- WENIGER kleine Mädchen, die in Bordelle geschickt werden
Und weil dies etwas war, was er sich wirklich gern wünschte, fügte er noch folgenden Satz hinzu: "Sollte ich gewinnen, möchte ich, dass der Gewinn ausschließlich zur Erfüllung dieser Wünsche verwendet wird". Obwohl er davon ausging, nicht zu gewinnen (denn warum sollte er?) beschloss er, den Wunschzettel abzusenden. "Viellicht ist es ja mal ganz gut, solche Wünsche auf die Reise zu schicken " dachte er sich. Außerdem war das für ihn ein Spaß, es war, als ob er der Werbeindustrie (die er ganz und gar nicht mochte) einen Tritt verpasste. Was die wohl für Gesichter machen, wenn sie solche Wünsche lesen? Vermutlich würden sie ihn für verrückt erklären und den Zettel umgehend wegwerfen. Dieser Gedanke amüsierte Herrn K. Er schob den Wunschzettel in den adressierten Rückumschlag und ging schlafen. Wieder einmal sehr zufrieden mit sich. Ja - solche Dinge konnten ihn erfreuen. Viel mehr als ein gewonnenes Auto. Als er am nächsten Morgen zum Bäcker ging, um seine Frühstücksbrötchen zu holen, warf er den Umschlag in den Postkasten - und dachte von da an nicht mehr daran.
In der Marketing-Abteilung des Versandhauses "Ziel" herrschte rege Geschäftigkeit. Herr Gustav, der Gründer und Hauptaktionär war persönlich anwesend. Die Auswertung des Preisausschreibens war abgeschlossen. 151258 der versandten Wunschzettel waren zurückgeschickt worden. 73 Hilfskräfte waren 11 Tage damit beschäftigt, die eingesandten Wünsche mit den dazugehörigen Adressen in eine speziell dafür angelegte Datenbank einzutippen. Denn dies war der eigentliche Zweck des Preisausschreibens: Festzustellen, was die Kunden für Wünsche haben, um sie dann ganz gezielt mit der entsprechenden Werbung zu versorgen. Das war Marketing. Natürlich war auch vorgesehen, den Gewinner werbewirksam zu vermarkten. Er sollte als Vorbild präsentiert werden.
Seine Wünsche sollten dann möglichst viele Leute anstreben und die dafür notwendigen Waren beim Ziel Versand kaufen.So war das Konzept der Marketingleute.
Damit das Ganze auch funktioniert, darf man die Ermittlung des Gewinners natürlich nicht dem Zufall überlassen. Herr Gustav persönlich würde die Entscheidung treffen, wer durch das Los bestimmt werden sollte. Diese wollte er anhand der Wünsche des potentiellen Gewinners treffen. Um all die Wünsche der vielen Tausend Einsender zu sortieren, wurde eine spezielle Software entwickelt. Diese verglich alle Wünsche, die in die Datenbank eingegeben wurden, und sortierte sie danach, wie oft ein Wunsch geäußert wurde. Das Ergebnis war eine Tabelle, die auf nur 2 Din-A4 Seiten passte. Denn die meisten Wünsche glichen sich. So fantasievoll war die Kundschaft vom Ziel Versand nicht.
Natürlich wurden die zugehörigen Adressen pro Wunsch nicht ausgedruckt. Dies hätte ein Adressbuch ergeben, über das nur der Weihnachtsmann nicht erschrocken wäre.
Aber die Adressen waren natürlich im System gespeichert. Man konnte den Wunsch eingeben und erhielt dann alle zugehörigen Adressen am Bildschirm angezeigt. Und nun war es soweit. Die Tabelle wurde gerade ausgedruckt. An erster Stelle (61721 mal gewünscht) stand ein Eigenheim, dicht gefolgt vom zweiten Platz (58151 mal) Autos, der größte Teil hiervon Sportwagen. An dritter Stelle wünschten sie die Mitspieler eine Weltreise (10123mal). Danach kamen viele kleine Dinge wie Fernseher, Stereoanlage, Möbel und Haushaltsgeräte. Über dieses Ergebnis waren die Marketingleute ganz und gar nicht erstaunt. Ihre Berufserfahrung veranlasste sie, genau mit einem solchen zu rechnen. Herr Gustav las sich die Liste durch und überlegte, welchen Wunsch er gewinnen lassen wollte. Den würde er dann in den Computer eingeben und ein Zufallsgenerator würde aus allen Adressen, die diesen Wunsch geäußert hatten einen auslosen.
Doch dann kam er zum Ende der Liste und traute seinen Augen nicht.
Dort stand etwas, das für ihn keinen Sinn ergab. Nur ein Wort. Und dies lautete:WENIGER - 1. Die Eins stand dafür, wie oft der Wunsch geäußert wurde. In diesem Falle also nur einmal. War da etwa ein Fehler in der Auswertungssoftware? Herr Gustav sah sein EDV Team mit grimmiger Miene an und zeigte die Tabelle Herrn Ede V, dem Programmierer. Dieser las die letzte Zeile mit Verblüffung, ging aber gleich ans Terminal, um festzustellen, wo der Fehler lag. Er gab das Wort als Suchbegriff ein. Das Programm müsste dann den kompletten Wunschzettel inklusive des Absenders anzeigen. Nun standen alle vor dem Bildschirm, der jetzt folgendes anzeigte:

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Teilnehmer Nr. 94029
Ede K
Sorglosallee 77
08150 Seinheim

geäußerte Wünsche:
- WENIGER Kriege und Verbrechen
- WENIGER Kinder, die verhungern müssen
- WENIGER kleine Jungs, die in den Krieg geschickt werden
- WENIGER kleine Mädchen, die in Bordelle geschickt werden

Bemerkung des Teilnehmers:
sollte ich gewinnen, möchte ich, das der Gewinn wirklich zur Erfüllung dieser Wünsche verwendet wird.

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Eine kleine Unachtsamkeit des Programmierers, hatte zur Folge, das die Software nur das Wort WENIGER erkannte, da es groß geschrieben war. Der Rest der Zeilen wurde unterdrückt. Herr Gustav war sprachlos, der Programmierer froh, das es nur ein kleiner unbedeutender Softwarefehler war, und der Rest glotzte.
"Ein Irrer" murmelte Herr Gustav. Alle stimmten ihm schnell zu. Ein Teil aus Überzeugung, ein Teil weil sie ihrem Chef immer zustimmen und die anderen um ihre eigene Verwirrung zu überspielen. Kein vernünftiger Mensch konnte sich so was wünschen. Nicht, wenn er dafür auf einen Gewinn von 500.000 Euro verzichten müsste. Die zwei Herren des Marketingteams sahen recht nachdenklich drein. "Machen wir weiter" sagte der Chef und begann auf der Liste nach dem nächsten, geeigneten Wunsch zu suchen. "Einen Moment. Dürfen wir einen Vorschlag machen?" sagten die Marketingleute gleichzeitig.
Vieles was sie sagten, sagten sie gleichzeitig, wie aus einem Mund. Das hatten sie mal für einen besonderen Werbegag eingeübt und nun war es ihnen zur Gewohnheit, zu ihrem Markenzeichen geworden. "Also irgendwie sind die Beiden auch verrückt " dachte sich Herr Gustav, war sich dabei allerdings bewusst, das sie bisher immer gute Ideen hatten. Ideen, die sich anfangs verrückt anhörten, auf lange Sicht jedoch sehr erfolgreich waren. Und schließlich kam es ja nur darauf an. "Na, dann lassen sie mal hören meine Herren". "Gerne" kam es in Stereo zurück. Dann sprach einer weiter "Wir meinen, dass genau diese Wünsche gewinnen sollen. Das wird der Ziel AG viel positive Publicity bringen." Herr Gustav stellte sich die Frage, ob dies vielleicht das erste Mal sei, dass die beiden nun doch keine so gute Idee hatten. "Kommt gar nicht in Frage. Haben sie vergessen, dass es Ziel des Preisausschreibens ist, bei unseren Kunden Wünsche zu wecken die unserem Warenangebot entsprechen? Wie sollen wir denn weniger Hunger, weniger Kriege und so fort verkaufen? Damit lässt sich kein Geschäft machen. Jedenfalls nicht für uns. Schließlich sind wir nicht im Waffengeschäft". "Wir glauben doch" widersprach ein Marketingmann "Solche Dinge lassen sich durchaus verkaufen. - werbestrategisch gesehen. Stellen sie sich mal vor: Ziel AG - der Wohltäter. Wenn sich diese Meinung bei unseren Kunden erst mal festgesetzt hat, dann können sie hemmungslos konsumieren, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Wenn ZIEL Gutes tut, dann haben unsere Kunden teil an der guten Tat, wenn sie bei uns kaufen". "nehmen wir mal an, dieser Mann gewinnt" entgegnete Herr Gustav "Meinen sie denn, er ist wirklich bereit, auf seinen Gewinn zu verzichten? Niemand verzichtet freiwillig auf 500.000 Euro. Wenn er erfährt, dass er gewonnen hat, wird er seinen Gewinn auch haben wollen. Und schon ist ihre Idee vom guten Wohltäter zunichte gemacht". "Aber nein. Er wird bei seinen Wünschen bleiben und wir werden das Geld für diese Zwecke ausgeben, ganz so, wie er es auf den Wunschzettel geschrieben hat. Er wird es sich nicht anders überlegen. Nicht, wenn wir ihn darauf hinweisen dass wir seine menschenfreundlichen Wünsche und einen eventuell anschließenden Rückzieher publik machen. Denn im einen Fall ist er der Mitwohltäter, im andern Fall würde er sich selbst zum Buhmann machen." Herr Gustav blickte mit seinem Pionier-blick in die Runde, schaute dann die Marketingleute direkt an und sagte feierlich: "Hervorragende Idee. Der Gewinner steht fest. Kommen sie morgen um 10 Uhr in mein Büro. Dann werden wir das weitere Vorgehen besprechen.
Die Besprechung am nächsten Tag verlief kurz. Man beschloss folgendes:
Herr K würde telefonisch über seinen Gewinn benachrichtigt werden. Dann sollten ihn die Marketingleute besuchen. Natürlich in Begleitung von Fotografen und Reportern.
Die einzige Schwierigkeit bei solchen Unternehmungen ist, darauf zu achten, dass die Gewinner sich vor den Presseleuten so verhalten, wie man es ihnen vorher beigebracht hatte. Bisher waren diese immer äußerst kooperativ. Schließlich wollten sie ihren Gewinn ja auch erhalten. Bei Herrn K allerdings hatten die Marketingleute zum ersten mal Bedenken. Wer solche Wünsche äußert, dem ist auch zuzutrauen, das er ihnen die Show vermasselt. Doch diese Bedenken sollten sich schnell zerstreuen. Herr K war von Anfang an gänzlich unkooperativ. Schon am Telefon bestand er darauf, dass sein Name nicht öffentlich erwähnt wird. Und Fotos von ihm gäbs schon gar nicht. "Ihre Papparazzies können sich den Weg sparen" sagt er der Dame am Telefon, die fast in Ohnmacht fiel. Schließlich hatte sie jemanden erwartet, der sich über einen so hohen Gewinn freut. Und nun redete sie mit einem alten Griesgram der offenbar nicht mehr alle Groschen in der Tasche hatte. Doch den Marketingleuten kam dies grade recht. Nun hatten sie freie Hand bei der Vermarktung des Gewinns. Herr K wurde aus allem herausgehalten. Die Medien wurden darüber unterrichtet was der Gewinner - ein guter Mensch, der nicht genannt werden möchte, verfügt hatte. Dann wurden Fotos und Berichte veröffentlicht, was mit dem Gewinn geschehen war. Die Marketingleute hatten sich verschiedene humanitäre Projekte von "Terre de homme" angesehen und sich drei ausgesucht, die sie für ihre Zwecke am geeignetsten hielten. Auf diese drei wurde die Gewinnsumme verteilt.
Herr K verfolgte mit Interesse die Berichte in den Zeitungen. Darin war zu lesen, dass die Ziel AG mehrere wohltätige Projekte unterstütze. Insgesamt 500.000 Euro habe sie dafür zur Verfügung gestellt. Nur in einem einzigen Satz wurde darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Geld um den Gewinn eines Herrn handele, der nicht genannt werden möchte. Herr K las dies und war glücklich. Zwar fand er es überhaupt nicht schön, dass die Ziel AG sich selbst als den großen Wohltäter pries, aber was solls. Wichtig war schließlich das Ergebnis. Und das hieß, dass nun viele Straßenkinder in Thailand so etwas ähnliches wie ein Zuhause bekamen und eine Schule besuchen konnten. Dass mehr Kinder bei ihren Familien bleiben konnten und nicht an Fabrik- und Bordellbesitzer verkauft werden, weil der Rest der Familie das Geld zum Überleben braucht. Und das freute Herrn K sehr. Mit einem zufriedenen Lächeln legte er die Zeitung beiseite. "Das ist das Ziel, das ich auf Erden erreichen wollte" dachte er und war sehr zufrieden mit sich.
Am nächsten Morgen hörte er beim Bäcker einige Leute reden. Über diesen Irren, der 500.000 Euro gewonnen, und das ganze Geld verschenkt habe. Herr K musste spontan lachen. Die Umstehenden dachten, er lache über diesen Irren. Aber er lachte über sie, über die Anwesenden, er lachte über die ganze Welt, über die Menschheit die immer noch nichts begriffen hatte und auch wohl nie begreifen wird. Er ging aus der Bäckerei, sah zum Himmel empor und betrachtete eine Wolke. In seiner Fantasie verformte sich diese Wolke zu einem Gesicht und Herr K erkannte seine Frau Anni, die ihm zulächelte. "Ja mein Engel" sprach er zu ihr "ich habe diese Welt erlebt. Und ich habe ein Geheimnis. Aber das nehme ich mit ins Grab"