Wie die drei Waisen aus dem Morgenlande es allen Schwierigkeiten zum Trotze doch noch rechtzeitig bis zum Stall in Bethlehem schafften
eingesandt von Sybille Mertens
Die fetten Kamele jaulten gequält auf, und der Galoppometer zitterte bedenklich um die 60-Meile-Marke. Quietschend gingen die hellbraunen Trampeltiere in die Steilkurve der Wüstenpiste.
"Balthasar", mahnte Kaspar, der auf dem zweiten Kamel saß, zum x-ten Male den Vorreiter, "gib mehr Stoff. Wir schaffen's sonst nie! Das wird ein Riesenreinfall!"
Balthasar grinste müde und preßte den Treibschenkel fester in die Weichen seines Reittieres. "Hast wohl schiß, Alter, was?"
"Mann", erwiderte Kaspar, "das hat doch nix mit Schiß zu tun. Ist nur 'ne Überlebensfrage. Ich möchte gern in die biblische Weihnachtsgeschichte eingehen. Er ist jetzt ganz dicht vor uns. Siehst du ihn?"
Er deutete auf den blendend blauen zuckenden Stern, der groß jenseits des Grenzübergangs zu sehen war.
"Seh' ich doch locker ohne Pupille", erklärte Balthasar und gab seinem Kamel so heftig die Peitsche, daß dieses mitten im Galopp einen ungetümen Satz macht, der Balthasar fast aus den Höckern gehauen hätte.
Melchior, der Schlußmann der kleinen Karawane, sagte gar nichts, obwohl er genauso wie Kaspar dachte, sondern keuchte nur schwer. Der lange Ritt nahm ihn körperlich mit.
Nur wenige Stadien vor ihnen und etwa 120 Klafter tiefer leuchteten zahlreiche Lichter in der Dunkelheit. Vor einer knappen halben Stunde bereits hatten sie die beiden Schilder mit den Hinweisen "Noch 15 Meilen bis Bethlehem" und "Zum Toten Meer rechts einordnen" passiert.
Unumstößliche Tatsache war, daß die Zeit drängte. Den Vorhersagen und ihren eigenen, gemeinhin recht zuverlässigen Berechnungen nach, mußte es jeden Augenblick passieren. Ein Indiz dafür war, daß der blendend blaue Stern intensiver zuckte und pulste, gerade so, als litte er unter himmlischen Wehen und sei kurz vorm Kreißen.
Unvermittelt sahen sich die drei Weisen, die interessanterweise auch noch Waisen waren - was sinnigerweise nicht überliefert wurde -, nach dem Überreiten einer Wanderdüne mit einem Meer lodernder Fackeln konfrontiert, die drei gewaltigen, gesenkte Schlagbäume, eine ebensolche Anzahl von Wachhäuschen sowie eine daneben befindliche Wachstation erleuchteten.
"Willkommen in der Zählstadt Bethlehem, Kreis Judäa!" stand da in lateinischen und hebräischen Buchstaben auf einem Schild. Und auf einem anderen: "Achtung! Noch zwei Stadien bis zur Grenze! Ausweispapyri bereithalten!"
Der Andrang der Menschenmassen an Schlagbäumen und Wachstation war unglaublich. Ein akustischen Gewölk von Geschrei, Gewieher, Gejaule, Gesumm und Gebrumm empfing die drei herangaloppierenden Weisen.
Ohne Vorankündigung zügelte Balthasar sein Kamel. In letzter Sekunde nur konnten Kaspar und Melchior ein Aufreiten verhindern, indem sie seitlich auswichen.
Die beiden fluchten unschön und schauten ihren Vorreiter vorwurfsvoll fragend an.
"Da kommen wir doch nie durch! Machen wir lieber kehrt!" meinte Balthasar resignierend, was überhaupt nicht zu seiner Art paßte.
"Wieso?" wollte Melchior wissen.
"Na, sieh dir doch mal die Warteschlange an!" Balthasar deutete auf den rechten Schlagbaum, neben dem das Schild "Morgenländer hier einreiten!" stand, und die davor befindliche Schlange. "Bis wir abgefertigt sind, ist alles vorbei!"
"Oh, ja", meinte Melchior betrübt und senkte zerknirscht sein turbangekröntes Haupt. "Das hätten wir natürlich vorhersehen müssen."
"Ich hab's vorhergesehen", erklärte Kaspar beschwichtigend, "und deshalb Vorsorge getroffen. Laßt mich nur machen."
Er griff in eine seiner Satteltaschen und entnahm ihr drei große Umhängeschilder, auf denen in Hebräisch und Lateinisch "VIP" geschrieben stand. Zwei davon reichte er seinen Begleitern. "Hängt sie euch um."
Balthasar und Melchior wechselten einen erstaunten Blick, befolgten aber Kaspars Anweisungen, der sich nunmehr an die Spitze der kleinen Karawane setzte und auf besagten Schlagbaum zutrabte.
Im Vorbeireiten sahen die drei, daß die Warteschlange an dem mit "Römer hier einreiten" beschilderten Durchlaß am kürzesten, die an dem mit "Judäer hier einreiten" markierten am längsten war.
Die Massen wichen zunächst mürrisch und erbost, dann aber ehrfurchtsvoll beiseite, als sie erkannten, was auf den Schildern der drei Weisen stand, die an ihnen vorbeidrängten.
"Heil, Augustus! Halt!" brüllte der römische Legionär neben dem Schlagbaum und hob drohend seinen Speer. "Vordrängeln gibt's nicht! Stellt Euch an, wie alle anderen auch!"
Kaspar deutete mit gewichtiger Miene auf sein "VIP" Schild. "Heil, Augustus! Könnt Ihr nicht lesen, guter Mann?" fragte er.
"Natürlich", erwiderte der Angesprochene gekränkt, doch zugleich sichtlich beeindruckt. "Das muß ich wohl übersehen haben. Verzeiht."
"Schon gut, schon gut". Kaspar winkte ab. "Dürfen wir passieren?"
"Die Formalitäten müßt Ihr schon über Euch ergehen lassen, edle VIP-Herren", erwiderte der Legionär nunmehr freundlicherer Miene. "Habt Ihr die Papyri zur Hand? Welches ist der zweck Eures Besuches? Seid Ihr beruflich oder als Touristen hier? Habt Ihr anmeldepflichtige Waren bei Euch?" Er schaute die drei Weisen fragend an.
Die reichten ihm zunächst ihre Ausweispapyri.
"Ah", meinte der Legionär, nachdem er einen kurzen Blich darauf geworfen hatte, "interessant. Bei Euch allen ist die Berufsbezeichnung "Weiser aus dem Morgenlande" eingetragen". Er musterte die drei plötzlich unterwürfig. "Seid Ihr etwa diese berühmten Wahrsager...?" Er beendete den Satz nicht, sondern geriet ins Sinnen.
"Aber gewiß doch, guter Mann", sagte Balthasar ungeduldig. "Es steht ja da. Nun laßt uns endlich passieren. Wir sind in Eile!"
Der Legionär reichte ihnen langsam die Papyri zurück und stützte sich auf seinen Speer "Ihr wißt gewiß, edle Herren", meinte er dann. "daß - VIP hin, VIP her - hier Rom das Sagen hat. Ich muß also auf der Einhaltung der Einreiseformalitäten bestehen."
"Na schön", erklärte Kaspar. "Zweck unseres Besuches ist die Anbetung eines Kindes mit gleichzeitiger Übergabe von Geschenken. Woraus sich wohl von selbst ergibt, daß wir aus beruflichen Gründen hier sind. Und anmeldepflichtige Waren haben wir nicht. Genügt das als Auskunft?"
"Geschenke?" Der Legionär runzelte die Stirn. "Und doch keine anmeldepflichtigen Waren? Hmm!" Er lehnte seinen Speer ans Wachhäuschen, nahm den Helm ab und kratzte sich ebenso verunsichert wie verlegen den Schädel.
"Wenn Ihr's genau wissen wollt", meldete sich ungehalten Balthasar, der wieder ganz der alte war, zu Worte, "wir führen nur die üblichen zollfreien Mengen von Weihrauch, Myrrhe und Gold mit. Überzeugt Euch doch selbst, wenn Ihr uns nicht glaubt! Macht schon, denn sonst werden wir bei Eurem Vorgesetzten eine Beschwerde einreichen, die Euch ein halbes Jahr Galeere einbringen kann, wie Ihr Euch wohl denken könnt".
Der Legionär verneigte sich und griff zur Kurbel des Schlagbaums um diesen hochzudrehen.
"Verzeiht, verzeiht, edle Herren! Natürlich dürft Ihr passieren!" rief er. "Ich dachte nur, daß Ihr, da Ihr so weise seid, einem bescheiden besoldeten Legionär einen heißen Tip geben könntet"; fügte er hinzu und sah die drei Weisen fast flehentlich bittend an, die ihre Kamele zu treiben begannen.
"Was für ein Tip?" fragte Melchior, der sich wieder ans Ende der kleinen Karawane gesetzt hatte, in einem aufwallenden Gefühl von Mitleid für den römischen Besatzer.
"Ich wüßte gern die Lottozahlen der Weihnachtsausspielung", sagte der Legionär. "Wenn ich sechs Richtige hätte, könnte ich endlich in Pension gehen. Am Tag vor Heiligabend ist Annahmeschluß".
Melchior hielt sein Kamel an. "Wenn's weiter nichts ist." Er schaute zu dem blendend blauen zuckenden Stern hinüber, der jetzt über einem abbruchreifen Stall verweilte, und schloß kurz die Augen. "Die sechs Gewinnzahlen für Euch zum Mitschreiben", meinte Melchior dann gönnerhaft und fuhr fort: "Sieben, acht, neun, zehn, zwölf, vierundzwanzig. Und die Zusatzzahl ist Null."
"Ich danke Euch, edler Herr", jauchzte der Legionär, der die Zahlen eifrig notiert hatte, überschwenglich, dieweil Melchior seinem Kamel die Sporen gab. "Das werde ich Euch nie vergessen!"
"Melchior!!!" brüllten Kaspar und Balthasar, die schon weitergeritten waren, unisono, "Nun komm endlich!"
"Ich komme ja schon", rief Melchior ihnen zu." Und an den Legionär gewandt sagte der im Angalopp: "Dankt mir lieber nicht, guter Mann. Annahmeschluß war nämlich gestern. Heute ist Heiligabend!"