Elroy
Elroy
Es ist stockdunkel, als Niklas aufwacht. Er knipst seine kleine Nachttischlampe an und schließt kurz die Augen, weil das Licht im ersten Moment blendet. Barfuß geht er zur Zimmertür und lugt vorsichtig in den Flur. Bis auf das dumpfe Tick-Tack, Tick-Tack der alten Standuhr im Wohnzimmer ist es still. Alle schlafen, Mama, Papa und seine Schwester Anna und auch die Oma, die über Weihnachten zu Besuch ist.
Niklas geht zurück ins Zimmer und zieht seine Kleider vom vergangenen Tag an. Anschließend schlüpft er in seinen Anorak und in die Gummistiefel und setzt sich zuletzt die Mütze auf. Zum Glück steckt der Haustürschlüssel im Schloss und er braucht ihn nur zweimal herumzudrehen. Leise zieht er die Tür hinter sich zu und geht die wenigen Schritte bis zum Hoftor. Dann biegt er nach rechts und läuft im hellen Schein der Laternen die Straße entlang. Da Niklas mit seiner Familie ziemlich am Stadtrand wohnt, hat er die Häuser bald hinter sich gelassen. Nun wird es ihm schon ein bisschen mulmig, auch wenn er keine Angst im Dunkeln hat, doch zu seiner großen Freude kommt gerade der Vollmond hinter einer Wolke hervor, die man natürlich bei Nacht nicht sehen kann. Mutig marschiert Niklas weiter bis zum Rand des Waldes. Die dunklen Schatten, die die kahlen Bäume in den weißen Schnee werfen, sehen richtig gespenstig aus, wie riesige schwarze Monster, findet Niklas. Aber er geht trotzdem weiter und denkt schon wieder an den vergangenen Abend. Dann hört er ein Geräusch, ganz dicht in seiner Nähe und ein Schatten huscht an ihm vorbei und verschwindet. Niklas erschrickt und bekommt es mit der Angst zu tun. Jetzt aber nix wie heim, denkt er und hört plötzlich eine Stimme: "Was machst du mitten in der Nacht hier draußen?"
Niklas kann sich vor Schreck nicht bewegen und ruft: W ... wer ist d ... d ... da?
"Ich, wer denn sonst", antwortet jemand hinter ihm und jetzt erst dreht sich Niklas um, zu rasch, denn er fällt der Länge nach in den Schnee. Und als sich dann auch noch dieser Schatten über ihn beugt, ist es mit Niklas Tapferkeit vorbei und er fängt an zu weinen.
"Bitte nicht weinen!", ruft die Stimme. "Ich tue dir doch nichts. Ich bin Elroy."
Niklas rappelt sich auf und will schon davonlaufen, da sieht er im Mondschein, was vor ihm steht.
"Du bist ja ein Rentier! Was machst du hier unten im Wald? Musst du nicht beim Weihnachtsmann sein?"
"Ich mache einen kleinen Ausflug. Und du? Sollten kleine Kinder um diese Zeit nicht in ihren Betten liegen und schlafen?"
Niklas senkt den Kopf. "Mama hat mir keine Geschichte vorgelesen und deshalb kann ich nicht schlafen."
"Warum hat sie dir nichts vorgelesen?"
Niklas zögert etwas, bevor er antwortet: "Weil ich nicht brav war beim Abendessen."
"Und was hast du angestellt?", fragt Elroy.
"Ich ... ich habe gelacht, als Oma das Gebiss aus dem Mund in den Suppenteller fiel und alles auf die weiße Tischdecke spritzte."
"Hm, das war wirklich nicht so nett. Hast du dich bei deiner Oma hinterher entschuldigt?"
Niklas nickte. "Ja, ich habs doch nicht böse gemeint, das Lachen ist einfach so aus mir herausgerutscht."
"Und was hat deine Oma gesagt?"
"Dass ich ein ungezogener Junge bin und nichts vom Weihnachtsmann bekomme."
"Das glaube ich jetzt aber nicht. Alle Kinder bekommen etwas."
"Ich nicht. Oma hat ganz böse geguckt, da hab ich ihr noch die Zunge herausgestreckt, aber nur zur Hälfte. Das hat mir dann auch gleich wieder leidgetan. Papa hat geschimpft und Mama hat mich zur Strafe ohne Gute-Nacht-Geschichte ins Bett geschickt."
Niklas senkt traurig den Kopf und seine Schultern zittern.
"Wie heißt du?", fragt Elroy.
"Niklas!"
"Du, Niklas, ich verrate dir ein Geheimnis. Ich mache keinen Ausflug, ich bin von zu Hause abgehauen, genau wie du."
"Abgehauen? Warum?" Niklas Interesse ist sofort geweckt.
"Das ist eine längere Geschichte. Willst du sie trotzdem hören?"
"Ja!"
"Gut. Ich fasse mich auch kurz. Vor vielen, vielen Jahren, als du, deine Eltern und deine Großeltern noch nicht lebten, war ich das einzige Rentier im Himmelreich. Du musst wissen, Niklas, dass die Menschen früher viel kleinere Wünsche hatten, die alle auf den Schlitten des Weihnachtsmannes passten. Für mich war es keine Mühe, ihn durch die Lüfte zu ziehen, bis wir pünktlich zum Heiligen Abend auf der Erde landeten. Das war eine schöne Zeit. Der Weihnachtsmann und ich hatten immer viel Spaß miteinander. Das Austeilen der Geschenke bedeutete Freude. Manchmal haben wir sogar noch die Zeit gehabt, durch die Fenster zu gucken und zuzuschauen, wenn die Kinder ihre Päckchen auspackten. Das war schön, ihre fröhlichen Gesichter zu betrachten.
Und heute sind wir zehn Rentiere, davon zwei als Ersatz, wenn mal eines krank wird. Wir haben auch einen viel größeren Schlitten, den ich mit den schweren und riesigen Geschenken nicht mehr allein ziehen kann. Der Weihnachtsmann lacht kaum noch und klagt über die viele Arbeit mit der Weihnachtspost. Außerdem hat er keine Zeit mehr, mit uns Rentieren mal ein Schwätzchen zu halten. Im Himmel herrscht nur noch Hektik und Stress, wenn du weißt, was das ist."
Niklas, der aufmerksam zugehört hat, meint: "Ja, das weiß ich schon. Mama sagt das immer zu Papa und in der Vorschule sagt es die Lehrerin, wenn wir alle auf einmal etwas von ihr wollen."
Elroy spricht weiter: "Und dann habe ich mich über den Weihnachtsmann geärgert, weil er mich morgen, wenn wir die Geschenke zur Erde bringen, nicht in der vorderen Reihe einspannen will, sondern hinten."
"Warum?", fragt Niklas.
"Weil ich halt nimmer der Jüngste bin und im Geschirr hinten besser aufgehoben wäre. Ich fühle mich aber noch nicht so alt und kann gut noch vorne bleiben."
"Hast du das dem Weihnachtsmann gesagt?"
"Ja, habe ich. Ich war recht unfreundlich zu ihm und sagte noch, dass ich nicht mitkomme, wenn er mich hinten einspannen will."
"Und dann?"
Elroy scharrt heftig mit einer Vorderhufe und antwortet: "Dann nehme ich eben eines der Ersatz-Rentiere und du brauchst in Zukunft nicht mehr mitzukommen, hat der Weihnachtsmann zu mir gesagt und ich glaube, er war wirklich ernsthaft böse auf mich, als er ging."
"So wie Oma auf mich, stimmts?"
"So ungefähr. Ich bin dann einfach auf die Erde gereist und genau hier gelandet. Aber es war trotzdem nicht richtig, einfach davonzulaufen. Es tut mir auch schon leid, dass ich so bockig und uneinsichtig war. Am besten, ich mach mich gleich auf den Heimweg."
"Nimmst du mich mit, Elroy? Ich möchte gerne mal auf dem Rücken eines Rentiers reiten. Bitte!"
"Meinst du nicht auch, dass du langsam nach Hause gehen solltest, bevor deine Eltern merken, dass du fort bist?"
"Bitte, nur einmal. Du kannst mich ja zurückbringen, bevor es hell wird und jemand was merkt."
"Du bist ganz schön clever für dein Alter, Niklas", sagt Elroy schmunzelnd. "Also los, dann steig auf und halte dich gut an meinem Halsband fest."
Das tut Niklas und eh er sich versieht, fliegen sie hoch und immer höher. Bald sieht er nur noch ganz klein die Lichter der Stadt.
Sie fliegen immer näher auf den Mond zu, der sich auf einmal hinter einer Wolke versteckt. Es wird kälter und der Wind weht sehr heftig. Niklas Hände sind bereits eiskalt und das Gesicht tut ihm weh.
"Wann sind wir denn endlich da?" Er muss sehr laut schreien, damit Elroy es auch hört.
"Das dauert noch eine Weile, gedulde dich. O Schreck, jetzt fängt es auch noch an zu schneien."
Und Niklas sieht es auch. Dicke Flocken wirbeln um seinen und Elroys Körper. Immer dichter werden sie, bis ein richtiger Schneesturm entstanden ist. Schaurig hört sich das Heulen des Windes an und Niklas wird es ganz elend zumute. Obwohl er seine Hände kaum noch spüren kann, lässt er Elroys Halsband nicht los. Und als es aufhört zu schneien und zu stürmen, setzt Elroy zur Landung an.
"Sind wir schon da?", fragt Niklas. Er steigt vom Rücken des Rentiers und versinkt bis zu den Knien im weichen Schnee.
"Keine Ahnung wo wir sind", antwortet Elroy. "Im Himmel jedenfalls nicht. Ich schätze, wir sind irgendwo in einem unbekannten Land. Der Schneesturm muss uns abgetrieben haben."
"Ich will aber heim in mein Bett", jammert Niklas los
"Du hast doch nicht auf mich gehört und wolltest unbedingt mitkommen. Wenn wir hier wenigstens etwas sehen könnten."
Als hätte der Mond Elroys Bitte vernommen, schiebt er die Wolkendecke beiseite und lässt sein silbernes Licht erstrahlen. Niklas und das Rentier schauen sich um. Weiß, soweit das Mondlicht reicht.
"Ich glaube, ich weiß, wo wir sind", sagt Elroy und Niklas schöpft Hoffnung.
"Wo?", fragt er.
"Im Land des Eiswolfes. Kein Grund, sich darüber zu freuen, denn er ist ein böses Tier, böser als es die Wölfe auf der Erde sind. Wir sollten schleunigst verschwinden. Steig auf, bevor uns jemand entdeckt."
Das lässt sich Niklas nicht zweimal sagen, doch kaum sitzt er sicher auf Elroys Rücken, als sich Stimmen nähern, oder besser gesagt ein vielstimmiges Geheule.
"Die Bewacher des Eiswolfes!", flüstert Elroy Niklas zu und noch bevor
sie sich in die Luft erheben können, werden sie von einer Meute weißer Wölfe umzingelt. Schwarze Augen funkeln die Eindringlinge an und die Mäuler der Tiere sind weit geöffnet, die Zähne gefletscht.
"Jetzt hilft uns nur noch ein Wunder", sagt Elroy "oder eine Portion Mut. Die Wölfe hassen Weihnachten und Musik. Niklas, du musst jetzt etwas singen."
"Ich kann nicht, ich will heim!"
"Sing, Niklas, sing so laut du kannst. Los!"
Und Niklas singt. Zuerst mit zitternder Stimme und dann immer fester und lauter: "Niklaus ist ein guter Mann, dem man nicht genug danken kann, lustig, lustig, traleralera, heut ist Weihnachtsabend da."
Noch während des Gesanges heulen die Wölfe auf und suchen das Weite.
"Und jetzt bringe ich dich schleunigst nach Hause", sagt Elroy. "Im Osten wird es bald hell. Heute ist Heiligabend und ich möchte gerne mit dem Schlitten zur Erde fahren und zuschauen, wenn der Weihnachtsmann die Geschenke austeilt. Dann soll er mich hinten einspannen. Immerhin besser als überhaupt nicht dabei zu sein."
Im Garten von Niklas Zuhause setzt Elroy zur Landung an.
"So, mein kleiner Freund, jetzt heißt es Abschied nehmen."
"Ich trau mich aber nicht rein. Oma ist bestimmt noch böse mit mir. Soll ich mich noch einmal entschuldigen?"
Elroy nickt.
"Auf jeden Fall, aber nicht nur wegen der Geschenke zu Weihnachten. Sag ihr einfach, dass du sie lieb hast. Das ist niemals falsch. Und nun mache auch ich mich auf den Heimweg."
"Entschuldigst du dich auch beim Weihnachtsmann?"
"Klar, das mach ich auch."
Niklas will noch etwas sagen, doch das Rentier hat sich bereits erhoben und ist bald darauf völlig verschwunden.
"Tschüss, Elroy!", ruft Niklas. "Tschüss. Ich werde dich nie vergessen!"
"Niklas! Aufwachen!"
Er öffnet verschlafen die Augen und sieht seine Mama vorm Bett stehen.
"Wo ist Elroy?"
"Ich kenne keinen Elroy. Du hast wohl geträumt, mein Junge. Komm in die Küche, wir warten mit dem Frühstück. Heute gibt es noch viel zu tun, es ist Heiligabend."
Als die Mama fort ist, geht Niklas zum Fenster und schaut hinaus. Er denkt an Elroy, dem Rentier. Hatte er das alles wirklich nur geträumt? Wenn ja, dann war es ein schöner Traum. Wieder ging die Tür auf und Oma kam herein.
"Was ist, Niklas? Wir warten nur noch auf dich. Du musst doch Hunger haben, weil du gestern Abend deine Suppe nicht fertig gegessen hast?"
"Ich hab dich lieb, Oma", antwortet er und Oma schenkt ihm dafür ein Lächeln.