Weihnachtsgeschichte

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von A. J. Cronin

Bei Anbruch der Morgendämmerung erwachte Seraja, des Herbergswirts Frau, und der erste Blick sagte ihr, daß Elah nicht neben ihr lag. Sie seufzte und blieb noch einen Augenblick still liegen, eines neuen Tages gewärtig, der ihr Herz mit neuer Last beschweren mochte. Die wirren Zeitläufe kamen ihr zu Bewußtsein, die Drangsale, die über Judäa gekommen: dahin alle Freiheit, das Volk schmachtend unter dem harten Joch des römisch Statthalters, gezwungen, vor dem im Tempel aufgestellten Bildnis des vergotteten Kaisers das Knie zu beugen. Allenthalben im Lande teils dumpfes Verzagen, teils frechen Ungebühr: Raub und Mord an der Tagesordnung, Verfall der Sitten, schamlose Entweihung des Göttlichen; die Atemluft vom Geist der Gewalttätigkeit verpestet. Mußte nicht, so fragte sich Seraja, etwas kommen, dem allem Einhalt zu gebieten? Und peinigender noch stellte sich Serajas eigene Not vor ihren Blick, der Jammer unter dem eigenen Dach, der ihr das Herz abdrückte.
Der Morgen war grau und unfroh, vom Hermongebirge wehte scharfer Wind herüber; doch raffte sie sich, vom Gefühl ihrer Pflicht getrieben, auf und begann sich anzukleiden. Sie schauerte leicht. Bethlehem lag auf einer Höhe, allen Winden preisgegeben, und der Winter brachte scharfen Frost. Seraja war, obschon über die Vierzig hinaus, noch gefällig anzuschauen, von zartem Wuchs, und in ihr offenes Gesicht stand Gutherzigkeit geschrieben. In Ruhe gelassen, bot sie ein Bild inneren Friedens. Ihre grauen Augen, von der gleichen Farbe wie das schlichte Gewand, in das sie sich nun hüllte, hatten die Tiefe eines, der mehr sieht als die Außenseite der Dinge; Augen, die erraten ließen, daß Seraja sich, vielleicht gezwungen, eine eigene Welt geschaffen hatte.
Mit dem Ankleiden fertig, überzeugte sie sich mit einem letzten Blick, daß alles in der Kammer an seinem Platz war; sie wollte eben gehen, als vorsichtig und leise die Tür geöffnet wurde. Es war Elah. Sichtlich in Verlegenheit, weil er sie schon auf den Füßen fand, blieb er zögernd in der Tür stehen; brachte überstürzt Erklärungen dafür, daß er schon weg gewesen war, vor. Er war, wie er sagte, schon zu sehr früher Stunde hinuntergegangen, um alles Erforderliche für die Gäste, die heute ins Haus strömen würden, vorzubereiten. Plötzlich, ganz unvermittelt, brach dann wieder die gereizte Stimmung in ihm durch, die er in letzter Zeit so oft gezeigt, und er murrte verdrossen über die Mehrarbeit, die ihm aufgelastet wurde, weil jetzt Leute zuhauf in die Stadt strömten, um sich in die Steuerliste eintragen zu lassen, wie es Herodes Antipas befohlen. Erst als er sich in seiner Rede unterbrach, offenbar eine Antwort heischend, sagte sie gelassen: "Es ist doch gar nicht deine Art, Elah, dich darüber zu beklagen, daß Leute in die Herberge strömen."
"Wenn es willkommener Zulauf ist, dann gewiß nicht", erwiderte er gereizt. "Doch es ist eine sehr gemischte Gesellschaft, mit der wir heute zu rechnen haben. Alles Pack ist unterwegs."
"Warum machst du dir dann so viel zu schaffen? Mußt ja mitten in dunkler Nacht, lange vor Einbruch der Morgendämmerung aufgestanden sein?"
Es entging ihr nicht, daß er unter ihrem ruhigen Blick errötete.
"Einer muß doch wohl das Nötige vorbereiten... ja doch, einer muß es wohl tun. Warum also nicht ich?"
Während er in sichtlicher Verlegenheit drauflos schwatzte, antwortete sie kaum. Es war das Mitleid mit seiner Schwäche, das sie stumm hielt. Und zugleich glaube sie aus seiner spürbaren Verwirrung und seinen forschenden Seitenblicken eine leise Hoffnung schöpfen zu dürfen, daß sie ihm immer noch etwas bedeutete.
Es hellte bereits auf, als sie hinunterging; schon herrschte in der Küche reges Leben. Die beiden tüchtigen Mägde, Rachel und Athalea, beide Seraja treu ergeben, waren emsig am Werk, den Herd für einen geschäftigen Tag zu rüsten. Kochtöpfe mit Linsen standen schon auf dem Feuer, Wasser war vom Brunnen geholt, eine Ziege briet am Spieß, wie es das Gesetz Moses vorschrieb. Rachel knetete dunkles Gerstenmehl, das sie auf der steinernen Handmühle gemahlen hatte. An sie wandte sich Seraja: "Wir werden für heute einen zweiten Schub Brote backen müssen... und für das Fleisch wird Tunke aus Butter und Milch nötig sein. Vergiß auch nicht, einige Kürbisse mehr mit Oliven zu füllen."
"Ach, Herrin", erwiderte Rachel, die Kleine mit dem dunklen Haar, und warf ihr einen spöttischen Blick zu, "denen, die heute kommen, um sich auf die Steuerliste setzen zu lassen, wird es wohl an der rechten Eßlust fehlen."
"Trotzdem, werden sie essen", sagte Seraja mit mattem Lächeln, "um wenigstens ihren Kummer hinunterzuwürgen." Nun wandte sie sich zu Athalea: "Wenn das Brot im Ofen ist, sieh zu, daß die Stuben oben bereit sind." Malthas war, wie Seraja aufatmend feststellte, noch nicht aufgetaucht. Sie kam immer zu spät, teils weil sie von Natur aus träge war, teils weil sie viel Zeit darauf wendete, sich sorgfältig zurechtzumachen; oft nahm das eine Stunde und noch mehr in Anspruch. Malthas' Bruder aber, Zadok, war bereits draußen im Hof, Seraja hörte ihn, wie er die Stallburschen anfuhr und ihnen mit schallender Stimme befahl, Weinkrüge ins Haus zu schleppen, ganz als wäre er der Wirt und nicht ein berüchtigter Spitzbube, der schon eine Menge Verfehlungen auf dem Gewissen hatte. Vor einigen Jahren war er in seinem Heimatort Lydda öffentlich als Dieb ausgepeitscht worden.
Das freche Geschrei Zadoks ließ Seraja wieder an seine Schwester denken, die sich jetzt oben vor dem Spiegel für den Tag herausputzte, und dieser Gedanke drang wie ein Schwert in Serajas Herz, doch raffte sie sich sofort wieder auf und wandte sich ihren häuslichen Aufgaben zu. Es war ihre Umsicht und ihre Emsigkeit, mit denen sie ausglich, was Elahs Nachlässigkeit und sein jäh aufbrausendes Temperament verdarben, seit Malthas und Zadok ins Haus gekommen waren. Zuerst waren die beiden bloß Knecht und Magd gewesen, doch bald hatten sie Sicherheit gewonnen und traten nun mit einer Anmaßung auf, die nur von Elahs Schwäche für Malthas herrühren konnte.
Die zehnte Stunde war bereits herum, als Malthas mit lautem Gelächter ihren Einzug in die Küche hielt, angetan mit dem reichverzierten Kleide, das Elah ihr geschenkt hatte. Herausfordernde Frechheit und pfiffige Selbstsicherheit, die Seraja grausam ins Herz schnitten, waren in Malthas' Stimme, als sie rief: "Ist ja ein vielversprechender Tag, heute! Da wird auch allerlei für uns abfallen. Draußen auf der Straße wimmelt es schon von Leuten, die unterwegs sind."
"Gewiß", damit blickte Seraja, den Schöpflöffel in der Hand, vom Bratspieß auf, "aber nicht alle diese Leute werden so reich und so freigebig sein, wie du es dir wünschtest."
"Elah wird sich schon die zahlungskräftigen heraussuchen, das kann ich dir versprechen", lachte die andere wissend.
"Du glaubst also, daß du dich für ihn verbürgen kannst?" Obwohl ihre Nerven zitterten, zwang Seraja sich zu einer ruhigen Antwort.
"Warum nicht?" Malthas ließ ihre Ohrgehänge klirren. Die Hände in die Hüften gestemmt, stand sie da wie eine Tänzerin. "Sag doch, wie gefällt dir mein Kleid?"
Seraja fühlte die verstohlenen Blicke, die die Mägde ihr zuwarfen, und das Mitleid, das sie zu fühlen bekam, schärfte den Schimpf der Herausforderung. Dennoch beherrschte sie sich und antwortete gelassen:
"Ja, ein schönes Kleid. Und so kostbar, ohne Zweifel."
"Darum schickt es sich für den heutigen Tag. Wird allerlei hergehen, bevor er zu Ende ist."
Und wirklich machte sich das lebhafte Treiben auf der Straße und im Hause jetzt spürbar. Die Herberge lag inmitten von Olivengärten an der Landstraße, die nach Bethlehem führte; nur eine Viertelmeile von der Stadt entfernt, die Rehabeam mit einem mächtigen Festungswall umgeben hatte. Wer dahin wollte oder von da zurückkam, mußte unausbleiblich hier vorbeikommen. Erbaut hatte das Haus Elahs Großvater, ein Mann von streng rechtlicher Gesinnung, Mitglied des Bundes der Zeloten; von ihm hatte es geheißen, er sei einer, der lieber zehn Talente einbüßte, als jemanden um einen Sekel zu überfordern. Seit jenen Tagen erfreute sich die Gaststätte guten Rufs und lebhaften Zuspruchs. Und nun, in Elahs Händen, stand es nicht mehr so gut um diesen Ruf, doch hatte er das Haus ansehnlich ausgebaut, sogar um ein Atrium erweitert, das nach römischer Art von oben her sein Licht erhielt. Diese und ähnliche Neuerungen lockten jetzt eine zahlreiche, wenn auch vielleicht minder erlesene Gästeschar ins Haus.
So war der Tag denn auch noch nicht weit vorgeschritten, als die Herberge bereits überfüllt, alle Stuben belegt, der Innenhof mit einer lärmenden Menge von Schmausenden und Trinkenden besetzt war. Welche davon führten lebhafte Klagereden, andere vergaßen die Mühsal der unfreiwilligen Reise und den düsteren Ausblick auf neue römische Steuern, indem sie den Speisen und dem Wein zusprachen. Elah lief geschäftig zwischen ihnen hin und her, trieb die Mägde an und schalt die Diener, verlor jedoch darüber keinen Augenblick lang sein Hauptanliegen aus den Augen: nie, so schien es Seraja, war die Habgier, in den letzten Monaten zur Fieberhitze gesteigert, so deutlich in seinen Blicken und Mienen zu lesen gewesen. Und noch nie hatten Malthas und Zadok so deutlich gezeigt, wie sie zu ihm standen; immer hielten sie sich in seiner Nähe, hatten stets ein Lächeln für ihn bereit, dienstbeflissen und vertraulich zugleich. Die Blicke, die sie untereinander austauschten, verhießen Seraja nichts Gutes.
Und wirklich begann sich in der Frau des Herbergswirtes, als die schwere Last der Mittagszeit von ihr wich und der lange lärmerfüllte Nachmittag vorrückte, ein seltsames Gefühl zu bilden und Gestalt zu gewinnen, das Bewußtsein, sie stände vor einer Entscheidung. Wie, so fragte sich sich, sollte das alles weitergehen? Wohl glaubte sie, daß Elah sie noch wert hielt, doch war es unverkennbar, daß er mehr und mehr unter Malthas' Einfluß geriet. Zwanzig Jahre war sie verheiratet, sie kannte ihren Gatten gut; wohlmeinend in manchem, von eher weicher als harter Natur, war er doch ganz von seiner Gewinngier beherrscht, stets nur auf Erwerb bedacht; und wenn er auch launisch und unberechenbar war, hatte er ihr doch bisher immer eine gewisse Rücksicht entgegengebracht. In letzter Zeit aber war er anders geworden. Wie besessen von Streben nach Vorteil, dem sie nur geringere Bedeutung beimaß, hatte er alle Strenge gegen sich selbst verloren und huldigte den lockeren Auffassungen und Lebensformen, die von den fremden Machthabern ins Land gebracht worden waren.
Eines schien ihr sicher - nie wäre es dazu gekommen, wenn ihr Kind am Leben geblieben wäre... Gewiß, das Kind wäre ein Band gewesen, das sie aneinander fesselte. Doch es hatte dem Allmächtigen gefallen, ihren kleinen Sohn von ihnen zu nehmen, und war nun, da nichts mehr ihn zurückhielt, da dieses Band gelöst war, Elah nicht zu allem fähig? War ihm nicht sogar zuzutrauen, daß er sie verstieß? Dieser Gedanke, der sie schon lange quälte, ließ sie erbeben. Und Elah wäre ja nicht der erste, der sein angetrautes Weib verstieß und eine leibeigene Magd ins Bett nahm. Sie hatte zu Gott gefleht, es möge nicht geschehen, doch war dergleichen in diesen schlimmen Zeiten etwas ganz Alltägliches, Sittenverderbnis griff um sich, und heidnisches Wesen breitete sich im Lande immer mehr aus.
Und es geschah um diese Zeit, als es auf die fünfte Stunde ging, daß Seraja, von solchen Gedanken bedrückt, während sie den Mägden half, die Schüsseln und Teller aus der Gaststube zu holen und zu spülen, plötzlich die zornige Stimme ihres Gatten aus dem Hof vernahm. Sie blickte hinaus und sah einen Mann vorgerückten Alters und ein junges Weib, staubbedeckt und sichtlich wegmüde, die an der Hintertür Einlaß in die Herberge begehrten.
"Ich sage euch doch, daß nichts mehr frei ist!" Elahs Stimme schwoll an. "Ihr müßt anderswo Unterkunft suchen."
"Lieber Herr", drängte der alte Mann, "wir haben überall in Bethlehem gesucht, aber nirgends ein Obdach gefunden."
Seraja trat, die Hände an der Schürze trocknend, näher an das offene Fenster heran. Sie sah den gequälten Ausdruck im Gesicht der jungen Frau, die Müdigkeit ihres Begleiters, der sich schwer auf seinen Stab stützte. Demütig und mit bewegter Stimme flehte er nun wieder Elah an, sich doch zu besinnen. Sie kämen von weither, sagte er, ihre Namen - mit rührender Einfalt brachte er sie vor, als vermöchten sie Elah umzustimmen - seien Joseph und Maria, und diese, sein junges Weib, stehe vor der Geburt ihres ersten Kindes. Nur der Erlaß des Landverwesers Herodes habe sie gezwungen, unter solchen Umständen die weite Reise zu unternehmen, und in ihrer Not müßten sie unbedingt ein Unterkommen finden. "Wenn Ihr uns doch aus reiner Güte einen Winkel unter Eurem Dach einräumen möchtet!" schloß er.
"Ich habe nicht einmal eine Bodenkammer frei." Elah schrie es dem alten Mann fast ins Gesicht: "Versteht ihr nicht, was man euch sagt? Die Herberge ist überfüllt - aber auch wenn sie es nicht wäre, gäbe es hier für Leute wie euch keinen Platz." Damit wandte sich Elah ab, die Abgewiesenen aber standen noch immer, Maria die Augen niedergeschlagen, ihr Gatte wie benommen und ganz ratlos. Zadok und einer der Knechte, die in der Nähe standen, wollten jedoch solche Gelegenheit, ihren Witz zu üben, nicht versäumen. "Nun ja, ihr seid wirklich in arger Verlegenheit", legte Zadok in erheuchelter Teilnahme los, "und bestimmt hätten wir unsere beste Stube für euch freigehalten, hätten wir nur geahnt, daß so vornehme Reisende bei uns einsprechen würden - mit damaszenischem Brokat hätten wir die Stube bespannt, hätten üppigweiche Teppiche aus Persien ausgebreitet, Tischchen bereitgestellt aus Sandelholz mit eingelegtem Perlmutt." Jetzt zerriß ein freches Grinsen den erheuchelten Ernst und, aufgestachelt durch das Kichern seines träge an der Wand lehnenden Kumpans, schüttete er neuen Hohn auf die müden Wanderer aus.
Joseph antwortete auf solchen Spott nicht, sondern nahm Marias Arm, und sie wandten sich traurig ab. Doch Seraja, die warmherzige, tiefergriffen, konnte nun nicht mehr an sich halten, sie durfte die beiden nicht so ziehen lassen. Der Regung ihres Herzens folgend kam sie aus der Küche gelaufen und griff nach dem ärmel von Mariens staubbedecktem Mantel. Um Elahs willen hatte sie nicht das Herz, sie ins Haus zu bitten. Vielleicht beobachtete er sie schon jetzt, stand bereit, sie zu tadeln und es ihr zu verweisen. Hastig führte sie die beiden über den Hof zu den abseits gelegenen Anbauten auf der andern Seite, stieß eine unverriegelte Tür auf und zog sie in das schützende Dunkel des Stalles. Der Raum, in den sie sie führte, war nichts weiter als eine tiefe Nische, in die rote vulkanische Erde gegraben, die den Hof umwallte, eingefaßt von Ziegelsteinen, die an der Sonne getrocknet waren, und gedeckt mit einem Geflecht aus starken Weidenruten. Im Hintergrund, kaum sichtbar, ruhten ein Ochse und ein junger Esel in ihren Verschlägen.
"Gott weiß", sagte Seraja, und ihr Atem ging schwer, weil sie unruhig war und voll Hast, "es ist armselig genug, was ich euch biete, aber mehr habe ich nicht, es euch zu geben. Immerhin... hier habt ihr ein Dach über dem Kopf, Wärme wider den scharfen Wind und sauberes Stroh, darauf ihr euch legen könnt."
"Wir danken Euch... sehr dankbar sind wir Euch", sagte Joseph und blickte ihr ernst in die Augen. "Der Himmel wird Euch Eure Güte lohnen."
"Die Tiere werden euch doch nicht stören?" fragte Seraja besorgt. "Es sind freundliche, stille Geschöpfe."
"Wir sind vom Lande... wir werden gut mit ihnen auskommen", antwortete Joseph. Dann wandte er sich nach Maria um, drückte ihr die Hand und murmelte beschwichtigend: "Sei guten Mutes, du siehst, alles geschieht ganz so, wie ich es in meinem Traum gesehen habe. "
Obwohl er nur leise gesprochen, entgingen diese seltsamen Worte der Frau des Herbergswirtes nicht. Und sie überraschten und verwirrten Seraja. Mehr noch machte sie die Ruhe und der gelassene Gleichmut bestürzt, womit sich die Wanderer in die Armseligkeit der Behelfsunterkunft schickten. Fast verlegen sagte sie:
"Und nun will ich euch etwas zu eurer Stärkung bringen." Bevor Joseph ihr danken konnte, eilte sie davon. Es war nicht leicht, unter den wachsamen Augen ihres Gatten Speisen für die Fremden herüberzuschaffen, doch hatte sie wieder Glück und war schon nach wenigen Minuten zurück, brachte Gerstenbrot, Ziegenkäse in Scheiben und eine bis zum Rande gefüllte Schale voll Milch. Und ihre Hilfe kam nicht zu früh, die beiden Wanderer waren von den Mühsalen der Reise erschöpft, auch entging es der Wirtin nicht, daß Maria, tödlich ermattet, schon an den ersten Wehen litt. Von tiefem Mitleid bewegt kniete das Weib des Herbergswirts nieder, der Fremden Beistand zu leisten.
Der Nachmittag wandte sich zum Abend, alles Gewölk hatte sich vom Himmel verzogen, ließ ihn in einem seltsam durchsichtigen Zwielicht erstrahlen; und oft unterbrach Seraja ihre Arbeit in der Herberge und nahm ihren Weg durch den Hof zum Stall. Sie hatte ihre brave Magd Rachel ins Vertrauen gezogen, und mit deren Hilfe konnte sie unbeobachtet diese Gänge besorgen. Dies war ein gutes Zeichen und ließ sie aufatmen, denn jetzt, da sie sich schon so weit vergangen, mußte sie mehr als zuvor fürchten, Elah könnte etwas entdecken. Doch, mochte geschehen, was da wollte, sie mußte zu Ende führen, was sie begonnen hatte. Ein Werk der Güte, zuerst aus Mitleid unternommen, hatte ganz unmerklich für sie ein ganz anderes Wesen erhalten, war jetzt etwas Geheimnisvolles, ungemein Wichtiges, ja es flößte ihr sogar ehrfürchtige Scheu ein. Diese Leute, die sie da ins Haus genommen, waren keineswegs gewöhnliches Straßenvolk. Als sie Joseph befragte, hatte er ihr gestanden, daß er aus Davids Haus sei, von königlichem Geblüt. Um so vieles älter als seine junge Frau, der er mit Sanftmut begegnete, schien er eher deren Vormund als ihr Gatte. Und Maria gar besaß, außer ihrer schlichten, strengen Schönheit, eine Würde, die bei einem so jugendlichen Geschöpf erstaunlich war. Die klaglose Heiterkeit, mit der sie sich in die demütigenden Umstände schickte, unter denen sie ihr Kind gebären sollte, ließ fast vermuten, sie nehme dies als etwas Vorherbestimmtes an. Dazu kam noch, daß der Himmel, nun ganz windstill, in unirdischer Reinheit erstrahlte, und daß auf diesem Himmel plötzlich, noch fern und doch schon hell leuchtend, ein großer Stern aufgegangen war: dies steigerte Serajas staunendes Erschauern. Sie hatte jetzt das Gefühl, einer bedeutsamen Begebenheit beizuwohnen, wenn sie auch nicht wußte, was es sein mochte. Darüber kam ihr ein guter Gedanke. In dem Wunsch, hinzugeben, was ihrem Herzen am teuersten war, eilte sie die Treppe zum Dach der Herberge hinauf. Hier, unter dem Dachfirst, sorglich in einer Truhe aus Zedernholz verwahrt, lagen die Windeln, die sie mit liebevollen Händen zehn Jahre vorher für das eigene Kind genäht hatte. Schmerz und zärtliche Innigkeit widerstritten einander, während Seraja sie nun betrachtete, den köstlichen Duft des Zedernholzes einatmete und ihres schmerzlichen Verlustes gedachte. Wieder stand ihr vor Augen, was hätte sein können, und zugleich wurde ihr bewußt, zu welch seltsamem, nie erträumtem Gebrauch diese Tücher nun kommen sollten. Freudig wollte sie den langgehüteten Schatz hingeben, hastig nahm sie die Windeln aus der Truhe. Als sie indessen in der frohen Erregung, ihre Gabe zu überbringen, wieder hinabeilte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Da, am Fuß der Treppe, erwartete sie Elah, und in seinem Blick standen Zorn und Vorwurf. Im Dunkeln des Ganges, hinter ihm, war Malthas zu erkennen.
"Was soll das alles, Frau?" fuhr er sie an. "Hab' ich diese Bettler nicht fortgeschickt? Und da muß ich hören, daß du ihnen Brot und Obdach gegeben hast. Und nun", er beugte sich vor und wollte ihr die Windeln aus den Händen reißen, "nun auch das noch!"
Seraja war erblaßt, sie begriff, daß jene sie ausgespäht und verraten hatte. Doch faßte sie wieder Mut und sagte mit einer Stimme, in der Entschlossenheit sich mit flehender Fürbitte mischte:
"Ihre Not ist groß, Elah, wie sollte ich ihnen meine Hilfe verweigern? Ich bitte dich, verwehre es mir nicht. Es ist etwas an dem... etwas, daß über unser Verständnis hinausgeht."
"über wessen Verständnis?" schrie er sie an.
"Hast du nicht den großen Stern gesehen... den Stern, der im Osten aufgeht? Elah, das ist ein Vorzeichen!"
"Was für Unsinn redest du da! Ein für allemal, ich verbiete dir, mit dieser... mit solch törichter Vergeudung fortzufahren."
Ein Schweigen folgte, wollte kein Ende nehmen, es zog sich hinaus, während Seraja, die Augen niedergeschlagen, den Blick ihres Gatten und Malthas' ertrug. Endlich hob sie den Kopf, sah ihm mutig ins Gesicht.
"Nein, Elah, ich muß es tun."
Fassungslos starrte er sie an, offenen Mundes. Doch schon im nächsten Augenblick übermannte ihn der Zorn. "Was... du unterstehst dich, mir zu trotzen?" Er hob die Hand, schlug ihr ins Gesicht.
Die Wucht des Schlages, der sie unerwartet traf, ließ Seraja zurücktaumeln. Doch stürzte sie nicht, raffte sich, tief Atem holend, zusammen. Gesenkten Hauptes, ohne ein Wort zu sagen, ging sie an Elah vorbei, überquerte den Hof.
"Da siehst du, wie wenig sie dich achtet", sagte Malthas nähertretend. "Bist du der Herr in deinem Haus? Warum sollst du ihren Trotz hinnehmen, da doch andere freudig bereit sind, dir auf den leisesten Wink zu gehorchen?" Und verführerisch schmiegte sie sich an ihn.
Doch diesmal ging Elah nicht auf sie ein. Sosehr er sich auch Seraja erbitterte, zürnte er doch in jähem Stimmungsumschwung auch sich selbst. Daß er Seraja geschlagen, schien ihm unausdenkbar, noch nie war er ihr roh begegnet. Nicht zu erklären, dieses sein Verhalten. Und doch, wiederum, hatte sie es wohl verdient. Er trat in die Tür, sah Seraje nach, die ihm zum erstenmal in ihrem Leben den Gehorsam verweigert hatte. Warum war das geschehen? Und was hatten die seltsamen Worte, die sie gesprochen, zu bedeuten? Unwillkürlich blickte er jetzt zum Himmel auf und gewahrte den Stern, der, obgleich noch fern, seiner Bahn geradewegs auf die Herberge zu folgte. Gleißend in bebendem Gefunkel, himmlisches Geschmeide, hielt der Stern seinen Blick gefangen, ließ ihn erstarren. Mit jähem Entschluß wandte Elah sich ab, verstört, zutiefst verwirrt. So kehrte er sich Malthas zu.
"Laß uns hineingehen und einen Becher Wein trinken", sagte er, "dies Gerede über Wunder und Zeichen macht mich sterbenskrank."
Sie traten in die Stube, vom Gang aus, die ihm als Speisekammer diente, und er füllte zwei Becher aus dem kaltgestellten Kruge, in dem er seinen Lieblingswein bereithielt, den er eigens für sich aus Petra kommen ließ. Er hatte sich in letzter Zeit dem Trunk ergeben, und anfangs hatte der Wein ihm viel Vergnügen bereitet - gewährte ihm Erholung von Hast und Einerlei des Tages und ermutigte ihn zu verliebtem Getändel; er fand dann Gefallen an Malthas' eitlem Geschwätz und an den Schmeicheleien, die sie reichlich auf ihn verschwendete. Jetzt aber fand er kein Ergötzen daran. Seltsam, der Wein erfrischte ihn nicht, noch überhob ihn das schmeichlerische Geplauder des Mädchens seiner Verdrossenheit. Er blieb mürrisch und wortkarg, und bald stand er auf und ging in das Atrium. Hier waren jetzt die meisten der Gäste versammelt, die von der Zählung zurückkamen und auf das Abendessen warteten. Wenn Elah sich unter sie mischte, fühlte er sich wieder als Wirt, nahm an der allgemeinen Unterhaltung teil, erörterte mit den Gästen die Schätzung und die Höhe der römischen Steuern. Bei solch ernsthaftem Gespräch über Geld und Steuerlast gedachte niemand einer so beiläufigen und nichtssagenden Erscheinung wie der des Sterns. Doch eine Stunde später, als Elah, nun beschwichtigten Herzens, ins Haus zurücktrat, stieß er auf Seraje, die ihn auf dem Gang erwartete und all dies Beunruhigende, Bestürzende wieder in seine Erinnerung rief, indem sie ihm verzückt verkündete:
"Das Kind ist geboren!"
Ihr Antlitz leuchtete, ihre Augen strahlten. Den Schlag schien sie ganz vergessen zu haben, denn sie fügte nur atemlos hinzu: "Und ich... ich habe es in meinen Armen gehalten."
"Nun, und was weiter?" herrschte er sie an und stieß die Hand zurück, die sich ihm auf den Arm legen wollte. "All das ist gegen meinen Willen geschehen."
"Hör mich doch an, Elah", beharrte sie eifrig, der Zurückweisung nicht achtend. "Kannst dir denken, daß nichts für das Kind vorbereitet war. Errätst du, was ich da tat? Hab' frisches Stroh geholt, hab' daraus ein kleines Bett bereitet und es in... errätst du es? in die Krippe gelegt. Zuerst war der Ochs verdutzt, aber dann kam er heran und leckte dem Kindlein den kleinen Fuß. Schnell, Elah, komm doch und sieh es dir selbst an, ich bitte dich! Du sollst das schauen, darfst es nicht versäumen."
"Laß mich zufrieden!" Er schüttelte sie ab. "Hab' nichts damit zu schaffen. Es ist kein Verstand in deiner Rede."
"Ich weiß da nichts mit dem Verstand, könnt' auch nicht sagen, was für ein Kind das ist... nur eines weiß ich: als ich es in meinen Armen hielt, da war ein Frohlocken in meinem Herzen, als müßte es jauchzen."
Etwas in ihm wollte sich widerwillig ihrer Güte fügen, ein anderes aber widersetzte sich dieser Neigung. An diesem inneren Widerstreit mochte es liegen, vielleicht auch machte er ihr zum Vorwurf, daß sie des Zwiespalts Ursache war, darum wählte er harte Worte, sie zu kränken:
"Was bist du doch für eine Närrin, wegen eines fremden Balgs solchen Unsinn zu reden. Und eine zänkische Närrin obendrein... willst mir deinen Willen aufzwingen. Geh jetzt und sieh zu, daß das Abendessen auf den Tisch kommt."
Als sie gegangen war, fühlte er sich durch ihre Unterwürfigkeit einigermaßen zur Milde gestimmt, war er doch jetzt wieder Herr im Hause. Doch hielt dieser Stimmungsumschwung nicht lange vor, fast alsogleich begann das aufreizende und unnatürliche Unbehagen wieder Besitz von ihm zu ergreifen, ihn zu peinigen. Er vermochte es nicht abzuschütteln, und unwillkürlich, unwiderstehlich getrieben, gelangte er auf einem Rundgang wieder in den Hof hinaus, blickte scheu und verstohlen zum Himmel auf. Wahrhaftig, der Stern war noch da, ja, er rückte näher, war jetzt größer und leuchtender als zuvor. Ob das wirklich ein Vorzeichen war?
Während er sich noch mit dieser Frage herumschlug, gewahrte er plötzlich zu seiner überraschung einige Schafhirten, die von den benachbarten Weiden auf die Herberge zuschritten. Gewiß hatten sie hier zu solcher Stunde nichts zu suchen, und doch kamen sie heran, ihrer sieben oder acht, in zottige Wollumhänge gehüllt, die Beine in Gamaschen, mit Riemen verschnürt, voran der alte Joab, der auf seiner Hirtenflöte eine schlichte Weise blies, womit er sonst seine Herde heimleitete. Der alte Joab war ein Sonderling, manche hielten ihn für einen Weisen, andere bloß für einfältig, ein Mann, der sich auf Kräuter und ihren Nutzen verstand, das Wetter voraussagte, in den Sternen zu lesen wußte und sogar Träume deutete. Ein Einzelgänger, allein lebend, nur um seine Schafe besorgt, menschlicher Gesellschaft eher ausweichend: doch gab es viele, die ihn aufsuchten, denn er heilte Kranke und sagte, wie man einander zuflüsterte, Dinge voraus, die dann in Erfüllung gingen. Befragte man ihn aber wegen dieser übernatürlichen Kräfte, so erwiderte er bloß, er verfüge über keine, doch vernehme er zuweilen in der Einsamkeit Stimmen - natürlich stempelte ihn das in den Augen der Aufgeklärten zu einem Schwachsinnigen.
Jetzt, da Elah ihn anrief und fragte, was sein nächtliches Kommen zu bedeuten habe, spielte er erst seine Weise zu Ende und gab dann ganz harmlos völlig widersinnigen Bescheid:
"Wir sind gekommen, Herr, um dem neugeborenen Kinde unsere Verehrung darzubringen."
"Verehrung, du alter Narr?" schrie der Herbergswirt zurück. "Bist du ganz von Sinnen?"
"Bin ich das, so bin ich's vor Freude, Herr. Denn dies ist ein Tag, auf den wir lange gewartet haben und der lange im Gedächtnis der Menschen verbleiben wird."
Und damit ließ er seine Hirten vor dem Eingang zum Stall einen Halbkreis bilden und nach einem kurzen Vorspiel auf seiner Hirtenflöte einen Gesang anstimmen, der, so rauh und ungeschult ihre Stimmen auch klangen, so armselig sein Geflöte auch die Melodie hielt, durchaus als Lobgesang und Jubelhymnus gelten konnte.
Sich auf die Lippen beißend, stand Elah da und lauschte verdrossen dem Chor. All dies ging über sein Begriffsvermögen, und unfaßlich blieb ihm auch, was sich nun ereignete, doch hatte er den Eindruck, es wäre von höherer Hand geleitet, was sich hier an der Schwelle seiner Herberge abspielte.
Daß irgendeine Frau ohne Bedeutung ihr Kind auf einer Wanderschaft in aller Heimlichkeit zur Welt bracht, war gewiß etwas Alltägliches. Warum dann hatte sein Weib darüber den Verstand verloren, war einem frommen Wahn erlegen? Warum waren diese halbblöden Lobsinger von ihren Weiden herbeigeeilt, standen da und plärrten zum Spiel einer Rohrflöte? Was vor allem hatte dieser einzigartige unglaubhafte Stern zu bedeuten? Ums Leben gern hätte Elah den Hof überquert, war es doch sein eigener Hof, hätte die Stalltüre aufgerissen, um mit eigenen Augen zu schauen, was hinter diesen rätselhaften Possen steckte. Aber er brachte es nicht übers Herz: Halsstarrigkeit, hochmütiger Stolz und noch etwas anderes - eine Art Furcht vor dem Unbekannten, vor etwas, was zu entdecken ihm zum Unheil ausschlagen konnte -, all das hielt ihr zurück. Da machte er lieber kehrt und trat wieder ins Haus. Doch wäre er dabei fast über Zadok gestolpert, der, vom Wein berauscht, in einem dunklen Winkel des Ganges auf dem Boden lag und laut schnarchte. Dieser Anblick, zwar keineswegs ungewohnt, wirkte jetzt auf Elah niederdrückend. Mit dem Fuß stieß er den Trunkenbold an, vermochte ihn aber nicht zu wecken. Eine Weile stand er so und betrachtete den Schlafenden mürrisch, dann ging er in seine Kammer und schickte sich an, die Anordnungen für den nächsten Tag zu treffen.
Damit fertig, konnte er nur mehr verdrießlich zusehen, wie die letzten Schüsseln vom Abendessen abgetragen wurden; und da erinnerte er sich, daß es hoch an der Zeit war, sich in die Listen eintragen zu lassen. Elah war einer der angesehensten Männer im Kreis und überdies eng mit Ammon, dem Zöllner, befreundet, der jetzt, neben seiner Tätigkeit als Steuereinnehmer, auch die Volkszählung leitete; so hatte es der Herbergswirt nicht nötig, sich in die Menge derer zu drängen, die zur Schätzung kamen, sondern konnte den Schätzmeister nach Schluß der Dienststunden aufsuchen. Schließlich war Ammon ihm für mancherlei Zuwendungen zu Dank verpflichtet: da ein Sack Mehl, dort ein Faß Wein, das Ammon nach Einbruch der Dunkelheit ins Haus geliefert wurde. So war ein festgegründetes Einvernehmen zwischen ihnen zustande gekommen, und Elah durfte sich darauf verlassen, daß ihm bei der neuen Steuererhebung eine bevorzugte Behandlung zuteil würde.
Der Gedanke an diesen Besuch, und mehr noch, daß er für eine Weile aus der Herberge fortkommen sollte, verschaffte ihm Erleichterung. Bald war er für den Weg bereit und machte sich nach Bethlehem auf; die Abwechslung, noch dazu die Bewegung in frischer Luft, das würde ihm guttun und die Wolken verjagen, die über ihm hingen. Doch trat dies nicht ein. Je schneller er ausschritt, je weiter er sich von daheim entfernte, um so zielloser irrten seine Gedanken umher. In der Stadt angelangt, erfuhr er zum überfluß, daß die Hirten, denen der Stern die Sinne verwirrt hatten, ihm zuvorgekommen waren; in ihrer Verzückung waren sie durch die Straßen gezogen, ihre närrischen Lobpreisungen singend, hatten dem Volk verkündet, ein großes Heil sei ihm widerfahren, das Licht sei in die Welt gekommen, und Gottes Herrlichkeit wäre um sie.
Elah ging diesen Verrückten aus dem Wege und verbrachte eine Stunde in vertraulichem Zusammensein mit Ammon; dann suchte er einen anderen Bekannten auf und bestellte Waren, die am nächsten Tage geliefert werden sollten. Doch während er dies tat, war er nicht sein eigenes Selbst, er fand an dem Feilschen nicht die gewohnte Freude, an dem vorteilhaften Gespräch mit dem Zöllner keine Befriedigung.
Als er wieder heimkam, sah er, daß alle Fenster verhangen waren, die Unrast eines langen Tages sich gelegt hatte. Jetzt wenigstens, so dachte er, würde er hier Frieden finden. Als er sich aber auf sein Bett warf, fand er nur unruhigen und mehrfach gestörten Schlaft. Unerfrischt erwachte er am nächsten Morgen, begrüßte den neuen Tag mit ärgerlichem Stirnrunzeln. Und nicht nur dieser Tag, auch die folgenden Tage hielten den Herbergswirt in einem Zustand ängstlicher Unentschlossenheit. Obwohl er nichts mehr unternahm, um etwa einzugreifen, beobachtete er doch verstohlen und mit heimlicher Unruhe das Kommen und Gehen seines Weibes, das noch immer für die Mutter und das Kind sorgte. Und all die Zeit über rückte der große Stern näher und näher. Länger, so fühlte Elah, war dies nicht mehr zu ertragen. Und eines Nachts, zu später Stunde, als er seine Schlüssel nahm und die Runde durch sein Haus und die Anbauten machte, sich zu vergewissern, daß alles wohlverschlossen war, ließ ihn der Widerhall von Pferdehufen erschrecken. Drei Berittene, reich angetan, Männer von dunkler Hautfarbe, zogen eben in den Hof ein; sie trieben dabei ihre Tiere zur Eile an, eben ganz wie Leute, die sich nahe dem Ort ihrer Bestimmung wissen. Elah verstand sich, wie es seine gewerbliche Erfahrung mit sich brachte, sehr wohl darauf, Gäste nach ihrem Rang richtig einzuschätzen, und so war ihm sofort klar, daß dies Männer von hohem Rang waren, wohl gar, nach den Juwelen zu schließen, nach den kostbaren Krummsäbeln und reichgeschmückten Turbanen, Könige aus dem Morgenlande. Gewöhnung und der Ausblick auf beträchtlichen Gewinst, der sich so plötzlich darbot, trieben ihn, auf die späten Gäste zuzueilen, sich vor ihnen zu verneigen und ihnen ehrerbietig seine Gastlichkeit anzubieten.
"Seid mir willkommen, edle Herren... bin Euer Ehren zu Dienst! Ihr habt, wie ich sehe, einen langen Ritt hinter Euch. Wollet also gestatten, daß ich mich Eurer Pferde annehme. Und verfügt über alles, was mein Haus zu bieten hat."
Verstanden sie ihn? Hörten sie auch nur auf ihn? Zu seiner Bestürzung achteten sie seiner gar nicht - ein flüchtiger Blick, der ihn gleichgültig streifte, war alles, was er zur Antwort erhielt. Doch dann sagte der eine der drei mit hoheitsvoller Miene, jedoch die Worte befremdlich fügend und in ungewohntem Ton:
"Wir bleiben nicht. Seht nur zu, daß uns niemand stört, solange wir hier sind."
Damit saßen sie ab, schnallten ihre Satteltaschen los und schüttelten den Staub von ihren Kleidern. Elah stand wie betäubt und gänzlich verwirrt da, sie aber blickten zu dem Stern auf, der jetzt stillstand und unmittelbar über ihnen erstrahlte; leise wechselten sie ein paar Worte miteinander, dann traten sie in den Stall.
Jetzt konnte Elah nicht länger an sich halten. Neugierde siegte über seine halsstarrige Widerspenstigkeit und überwand seine Furcht, er werde in all dem Unfaßlichen, Ungewußten etwas finden, was ihn von Grund aus verletzen und demütigen mochte. Zögernd, Schritt vor Schritt, wie von einer unsichtbaren unwiderstehlichen Kraft getrieben, ging er den drei Fremdlingen nach, folgte ihnen bis zu der halboffenen Tür und blickte ins Innere des Stalles.
Es war dämmerig darin, denn nur ein aus Binsen geflochtener Docht, der in einer flachen ölschale stak, verbreitete flackernd spärliches Licht, warf sanfte Schatten in alle Winkel des kellerartigen Raumes und an die rohen Balken, die das Dach aus Weidengeflecht trugen. Und doch war alles deutlich erkennbar, lebendig und klar, als wäre es vom Pinsel eines großen Malers festgehalten. Maria, die Mutter, auf einer Strohschütte ruhend, hielt das Kind in den Armen, während Joseph, nachdem er aufgestanden, die Besucher willkommen zu heißen, wieder in den Hintergrund getreten war, bescheidentlich in seinen grauen Mantel gehüllt. Ochs und Esel lagen friedfertig im Dämmer ihres Verschlags. All dies hätte Elah voraus wissen mögen, doch unvorhergesehen ergriff ihn die schlichte Schönheit des Bildes. Und am verblüffendsten war das Gehaben der drei würdigen Fremden, in denen er reiche und mächtige Könige aus dem Morgenland erriet. Mit seinen eigenen Augen sah er, wie sie der Reihe nach vortraten, ehrfurchtsvoll auf dem kahlen Boden niederknieten, dem Neugeborenen ihre Anbetung darbrachten und, nach dieser Huldigung, ein jeglicher demütig seine Gabe niederlegte. Elah hielt den Atem an und reckte den Hals, denn jetzt erkannte er auch die Kostbarkeit dieser Gaben - Weihrauch, Myrrhe und Gold. All das nahm Maria in schlichtem, fast scheuem Schweigen entgegen, in einem Erschauern, als unterwerfe sie sich einem frommen Ritus, den sie selbst noch nicht in vollem Ausmaß verstand, von dem sie aber wußte, daß er ihr vorbestimmt war. Auch das Kind, eng an ihre Brust geschmiegt, schien der Zeremonie, die vor ihm vollzogen wurde, auf erstaunliche Weise bewußt zu sein, denn sein Blick hielt die drei Fremdlinge fest und folgte ihrem Gebaren mit seltsam rührendem, feierlichem Ernst.
Dies alles ging so gänzlich über das Fassungsvermögen des Herbergswirts, daß er sich fragen mußte, ob, was da geschah, Wirklichkeit sei; er preßte die Fäuste gegen seine Schläfen, als wollte er ein Trugbild aus seinem Kopf zwängen. War er betrunken? War's Traum? Ein Bettelkind, zufällig in diesem Stall zur Welt gekommen, von drei hochgeborenen Königen nicht nur verehrt, sondern, jawohl, angebetet! Wie sollte ein vernünftig denkender Mensch wie er darin irgendwelchen Verstand finden? Ach, er klammerte sich an dieses Wort... ein vernünftig denkender Mann... denn es erging ihm wie einem Schwimmer, den im tiefen Wasser der Mut verläßt und der nach einem rettenden Halt greift. War er nicht ein Mann, der sich im Alltag bewährte, allen Aufgaben gewachsen, vernünftig, pfiffig sogar, einer mit Sinn für Tatsachen, der sich mit gesundem Mutterwitz überall zurechtfand? Einer, der in der Welt Bescheid wußte und dessen wacher Zweifel so oft eine Betrügerei, eine ausgetüftelte Täuschung durchschaut hatte? Schierer Wahnsinn war es, von Herrlichkeit und himmlischer Freude, von einem Licht zu reden, das die Welt erleuchten sollte - es mußte doch einen vernunftmäßigen Grund geben, diesen Mummenschanz zu erklären, und er mußte sich finden lassen.
Doch plötzlich, da er schon im Begriff war, das Geheimnisvolle des rätselhaften Vorgangs, den Lobgesang der Hirten, die Heimsuchung durch die Könige, das Erscheinen des Sterns von sich zu weisen, bewegte sich das Kind unmerklich in den Armen seiner Mutter und richtete seinen Blick voll auf Elah. Und diesem Blick aus unschuldigen Augen, in denen kein Vorwurf stand, diesem Blick voll Sanftmut und Gnade konnte der Herbergswirt nicht widerstehen. Ein Erschauern durchlief ihn, zwang seinen Blick nieder. In einer Regung letzten Widerstandes wandte er sich ab, eilte, als wollte er einer Gefahr entrinnen, in das Haus zurück, quer über den Hof, als wären die Verfolger hinter ihm her. Das Haus lag in tiefer Stille, Gäste und Diener hatten sich zur Ruhe begeben. Nur in einem Vorraum brannte, als Elah eintrat, ein ungelöschtes Licht, und es war Malthas, die noch aufsaß. Sie trug ein ungegürtetes Gewand, ihre Wangen glühten, als hätte sie etwas Heißes, Kräftiges getrunken, und das schwarze Haar fiel ihr gelöst über die Schultern. Mit einem Lächeln voll wärme und verführerischer Einladung begrüßte sie ihn.
"Wo bist du denn gewesen? Hab' schon gefürchtet, du würdest gar nicht kommen. Und das nach einem Tag, an dem ich kaum ein Wörtlein von dir gehört habe." Sie streckte die Arme nach ihm aus. "Komm, sitz nieder, trink mit mir. Sag, daß es lieb von mir war, auf dich zu warten. Und sprich mir von Liebe!"
Das jähe Licht blendete ihn. ihr unerwarteter Anblick verwirrte ihn, noch waren all seine Gedanken in Aufruhr; so beschattete Elah seine Augen mit der Hand und lehnte sich gegen den Türrahmen.
"Was hast du denn? Ist dir nicht gut?" Sie lachte vielsagend. "Ist es das Verlangen nach mir, das dich schwächt?"
Er antwortete nicht. Gerade sie hatte er jetzt nicht zu sehen gewünscht. Im Aufruhr seiner Gefühle schien sie ihm jetzt geradezu widerwärtig. Doch hemmte ihn Scham, die Ursache seiner Schwäche zu entblößen.
"Bin wohl müde", murmelte er. "Hast es ja gesagt... es war ein langer Tag für mich."
"Dann komm und setz dich zu mir, daß ich dich erfrische." Und sie wiederholte ihre einladende Geste.
"Nein..." Den Kopf abgewendet, überlegte er, was er vorbringen sollte. "Ich bin wirklich müde, Malthas... es hat soviel zu tun gegeben... heute nacht muß ich Ruhe haben."
Ihre Miene wurde hart, nicht so sehr wegen seiner Worte wie wegen der Art, in der er sie zurückwies.
"Nun, Elah", rief sie schrill, "so kannst du nicht mit mir umspringen..."
Doch bevor sie mehr sagen konnte, wandte er sich ab und ging davon.
Wirklich war eine große Mattigkeit über ihn gekommen, er stieg mit schweren Füßen, als wären sie mit Blei belastet, die Treppe hinauf zu seiner Kammer. Er hatte erwartet, sein Weib schlafend vorzufinden, doch trotz der späten Stunde hatte sie sich noch nicht zur Ruhe gelegt. Auf einem niedrigen Schemel saß sie am Fenster, den Kopf nachdenklich gesenkt, einsam - so hob sie sich scharf von der Sternenhelle des Himmels ab. Sie spähte hinaus, so tief in ihre Gedanken versunken, daß sie sein Eintreten gar nicht zu bemerken schien. Etwas in ihrer Haltung - vielleicht war es auch sein eigener Gemütszustand - hemmte ihn, und obwohl er ihr etwas sagen wollte, fand er die Worte nicht. Plötzlich fühlte er sich zu ihr hingezogen, so heftig drängte es ihn zu ihr wie seit jenen fernen Tagen nicht, da er, ein unbeholfener Bursche, um sie geworben hatte. In der Verwirrung seiner Gedanken sehnte er sich danach, mit ihr zu sprechen, ihr sein Herz zu öffnen, sich ihr anzuvertrauen. Doch war ihm solche Herzenseinheit in den letzten Monaten verlorengegangen, und da ihm jetzt bewußt wurde, daß dies an ihm gelegen hatte, blieb seine Haltung gezwungen, und er brachte kein Wort hervor. Dennoch, er mußte jetzt sprechen, da gab es keine Abhilfe, und so brach er schließlich mit jähem Entschluß das Schweigen. "Wäre es nicht an der Zeit, zu Bett zu gehen? Du hast es in diesen letzten Tagen schwer gehabt."
"Mir sind diese Tage nicht schwer vorgekommen", antwortete sie, ohne aufzublicken. "Mir waren sie eine Zeit der Freude."
"Dann verdirb dir die Freude nicht, indem du dir ein Fieber zuziehst - du weißt doch, wie schlecht dir die Nachtluft bekommt. Schließe die Fensterläden, dann zünde ich die Lampe an."
"Brauchst du sie denn?" fragte sie leise. "Ist's im Widerschein dieses Sterns nicht hell genug?"
"Ei ja, dieser Stern", erwiderte er und verstummte. Um sich keine Blöße zu geben, versuchte er einen leichten Ton anzuschlagen. "Merkwürdige Dinge haben sich hier in letzter Zeit zugetragen. Auch heute abend. Als ich hinunterging, das Haus zu verschließen, tauchten drei reiche Fremdlinge auf... hochmütige Herren, das magst du mir glauben. Wollten mit uns gar nichts zu schaffen haben. Was sie vorhatten habe ich nicht herausgebracht."
"Sie sind schon wieder fort", erwiderte sie gelassen. "Ich sah sie kommen und, eben erst, wieder gehen. Zweifellos haben sie verrichtet, was sie vorhatten."
Ihr Blick war immer noch auf die Anbauten, die jetzt in tiefer Stille dalagen, gerichtet; und mehr als je fühlte er sich gedrungen, ihr sein Herz aufzuschließen, in ihrer Einsicht Aufklärung zu suchen, Lösung des Rätsels, das nun so unabweisbar auf ihm lastete. Doch bevor er den günstigen Augenblick wahrnehmen konnte, war dieser verwichen - mit einem Seufzer hatte sie sich erhoben, hatte begonnen, das Fenster zu verhängen.
"Ich muß doch wohl diese Helligkeit aussperren, sonst findest du keinen Schlaf."
Wortlos begannen sie sich zu entkleiden, streckten sich dann auf dem Lager aus. Doch so müde Elah auch war, sosehr es ihn nach Schlaf verlangte, er fand keine Ruhe, eine Last, wie er nie eine gefühlt, hatte sich auf ihn gewälzt, eine Schwermut und Trübsal, ein niederschmetterndes Gefühl seines eigenen Unwerts. Ihm war, als sähe er sich zum erstenmal mit den Augen der Wahrheit. Alles, worauf er sein Leben aufgebaut, die feste Grundlage seines Daseins, war von den Ereignissen der letzten Tage unterhöhlt worden. In diesem Augenblick erleuchteter Selbstschau schien ihm alles, wonach er je gestrebt, wonach er so gierig gerungen hatte, Gewinn, äußerer Erfolg, Sinnenlust, eitel und schmutzig. Und sonderlich, wie aberwitzig und gefährlich es war, Malthas hörig zu sein, sah er jetzt in klarem Licht. Nie war das Liebe gewesen, nur eine Betörung: Schwäche eines alternden Mannes, dessen Jugendblüte dahin war, sich einem schmeichlerischen Wahn zu überlassen.
Und damit wandten sich seine Gedanken wieder Seraja zu, seinem Weibe, das so viele Jahre mit ihm durchwandert hatte, an seiner Seite sich rackernd und plagend, stets geduldig, seine gereizten Worte, seine selbstsüchtigen Launen hinzunehmen und die Last des Tages zu schleppen. Wie hatte er all das ohne ein Wort des Dankes als selbstverständlich hinnehmen können? Nachsicht, Freundlichkeit, Rücksichtnahme auf ihre Mitmenschen, der Wunsch, Gutes zu tun, vor allem aber eine unermüdliche Selbstlosigkeit, das waren Eigenschaften, die er nicht genug gewürdigt hatte und die sich jetzt als Vorwürfe wider ihn erhoben. Schweiß traten ihm auf die Stirn. Das unirdische Licht, das durch die Schlitze der Fensterläden hereindrang, zeichnete Gitterstäbe an die Wand, als sollte er in sein Unrecht eingekerkert bleiben. Tief von Reue und Gewissensbissen ergriffen, wandte er sich Seraja zu. "Seraja, bist du wach?"
Sie antwortete sogleich: auch Seraja hatte keinen Schlaf gefunden, vibrierend war Schweigen zwischen sie gespannt gewesen, jetzt aber, endlich, war seine Zuge gelöst. Mit unsicherer Stimme, mit Worten, die sich überstürzten, enthüllte er ihr seine tiefe Verwirrung, gestand, daß er untreu gewesen, sagte, daß er es bereue, bat um Vergebung. Er wollte mit Malthas brechen, schon morgen werde er sie und ihren Bruder fortschicken. Schweigend hörte sie ihm zu, hielt seine Hand tröstend umklammert, und als er verstummte, sprach sie ihm sanft und zärtlich zu.
Und nun, da all dies, was auf ihm gelastet, abgeworfen war, überkam ihnen eine tiefe Ruhe. In erneuter Vertraulichkeit sprach er offen, sogar mit übertriebener Offenheit, wie das in seinem Wesen lag: denn er war so geartet, daß er leicht aus tiefster Niedergeschlagenheit in hochgemute Stimmung verfiel.
"So sag mir jetzt, Seraja, du meine liebe Frau... was denkst du von all dem, was sich da zugetragen hat?"
"Ich verstehe es selbst nicht. Doch eines scheint mir sicher, in dem, wovon wir Zeugen wurden, birgt sich ein himmlisches Geheimnis."
"Ich für mein Teil", überlegte er laut, "wenn ich versuche, Klarheit in die Dinge zu bringen - und du weißt doch, daß ich immer ein Mann nüchternen Denkens war -, nun, wenn es nach mir geht, so ist dieses Kind wohl der Sohn einer hochgestellten, vielleicht einer erhabenen Persönlichkeit... Gott allein weiß, wessen Sohn. Doch muß es jemand sein, der gute Gründe hat, wenigstens fürs erste die Herkunft des Kindes geheimzuhalten. Alle die sonderbaren Umstände, und gar diese Geburt im Verborgenen - nun, mir ist zwar nicht völlig klar, was dies bedeutet, doch scheint das alles meine Vermutung zu bestätigen." So redete er noch minutenlang weiter, schweifte zu diesem und jenem ab, bis er endlich abschließend urteilte: "Dem sei, wie ihm wolle, ich will offen zugeben, daß ich mein fühlloses Verhalten bedauere - so tief bedauere, daß ich zu jeder Gutmachung bereit bin.
Nun unterbrach sich der Herbergswirt. Seit der Blick des Kindes ihm ins Herz gedrungen war, keimte in ihm ein Verlangen, zwiespältig gespeist aus einer Liebe, die unerwartet in ihm erwacht war, und seinem Besitztrieb. So fuhr er in einer Anwandlung seiner alten Eigenart fort: "Ich habe mir das überlegt, liebe Frau. Allenfalls... wir könnten uns anheischig machen, dieses Kind als unser eigenes anzunehmen..."
Eine Weile lang schwieg Seraja. Dann schüttelte sie bedachtsam, doch voll innerer Gewißheit den Kopf: "Nein, Elah, das kann nicht sein. Welche Mutter würde solch ein Kind hergeben?"
"Bedenke doch, welche Vorteile wir bieten könnten. Wir sind wohlhabend... zum mindesten" - unterbrach er sich vorsichtig - "einigermaßen wohlhabend. Immerhin könnte ich es mir leisten, freigebig und wohltätig zu sein."
Nach einem kurzen Schweigen sagte sie ernst: "Ich hatte heute nachmittag ein Gespräch mit Joseph. Er sagte mir, sie müßten uns morgen verlassen."
"Morgen! Das geht doch nicht an."
"Doch, es ist sehr wohl möglich, die Mutter ist jung und gut bei Kräften, und wenn ihrem Kinde Gefahr droht, wird sie nicht säumen."
"Was für eine Gefahr?"
"Herodes sinnt den Kindern Böses."
"Ach, nicht doch, liebe Frau, ich glaube, da übertreibst du! Welche Beweise hast dur dafür? Hat dieser Mann gesagt, von wem ihm diese Warnung zukam?"
"Es gibt Menschen, Elah, Auserwählte... die lassen sich nicht durch die Stimmen der Welt leiten. Solches waren die Propheten... und solch einer ist dieser gute Mann, auch wenn er nicht weissagt. Glaub mir, sie müssen uns verlassen und sich für eine geraume Weile von hier fernhalten."
Elah wollte etwas darauf erwidern, aber er unterließ es. Zwar blieb er bei seiner Meinung, doch wollte er Seraja jetzt nicht widersprechen, ihr nicht zusetzen oder seinen Willen aufzwingen. Allzu süß war ihm das neue Gefühl, zu kostbar die neue Eintracht. So sagte er nur mit ungewohnter Sanftmut:
"Ich will morgen früh zeitig aufstehen und mit dem würdigen Joseph sprechen, ich werde ihm freundlich zureden und ihn überzeugen... du wirst schon sehen."
Sie verstand, daß er nur einen schwachen Abglanz von dem himmlischen Licht, das sie erschaut, gesehen hatte und daß er, was sich ihr als köstliches Geheimnis darbot, nur nüchtern zu verstehen trachtete. Doch war auch sie über die Versöhnung so glücklich, daß sie sich mit der neuen Herzenseinheit gern zufrieden gab. Und friedvoll schlummerten sie ein.
Doch hatte Elah, als er am Morgen erwachte, seinen Vorsatz keineswegs vergessen. Er weckte Seraja, wies sie an, sich eiligst anzukleiden und mit ihm hinunterzugehen. Sie mußte über seinen Eifer lächeln, fügte sich aber, um ihn bei guter Laune zu halten. So gingen sie an der Küche vorbei, in der die Mägde schon rührig am Werk waren, und traten in den Hof hinaus. Die Sonne ging gerade auf und tönte golden die Dächer Bethlehems, die sich auf dem leichtbewölkten Horizont abzeichneten. Kühl und erfrischend schlug den beiden die Luft ins Gesicht. über den Olivenhainen, die sich die Hänge hinanzogen, kreisten Wildtauben. Elah hatte den Arm seiner Frau genommen, als sie den Hof überquerten. Wohl wußte Seraja voraus, was sie vorfinden würden, doch klammerte sie sich an eine ungewisse Hoffnung, die ihr Herz schmerzhaft schlagen ließ, als Elah nun an die Stalltür pochte und dann öffnete. Ja, sie waren fort. Bis auf den Ochsen und den Esel war der Stall leer. Scheu trat der Herbergswirt ein, von seinem Weibe gefolgt, blickte enttäuscht um sich, als suchte er etwas, eine Spur, die allenfalls von den Bewohnern zurückgeblieben wäre. Der Raum war sauber und ordentlich, das Stroh vom Boden aufgelesen, alles an seinem Platz wie kaum je zuvor. In der Luft hing noch der schwache Duft von Myrrhe und Weihrauch, und am Rande der Krippe, in der das Kind gelegen, blinkte ein Stück Gold.
"Da siehst du", Seraja konnte einen leisen Vorwurf nicht unterdrücken, "Maria hat für ihre Unterkunft bezahlt."
Elah errötete tief: Das Gold hätte zehnfach gereicht, selbst wenn er ihnen seine beste Stube zur Verfügung gestellt hätte. Er nahm das kostbare Stück Gold auf, doch war es nicht eigentlich eine Münze, vielmehr von seltsamer Form, vermutlich so gestaltet, wie es im Bergwerk oder in einem fernen Flußbett gefunden worden war. Lange betrachtete er es schweigend, und diese Stille des sonst so habgierigen Mannes war befremdend. Dann reichte er das Gold seinem Weibe.
"Nimm... es ist dein."
Seraja nahm es. Auch sie betrachtete überrascht die sonderbare Form, deren grobe Umrisse an ein Kreuz erinnerten.
"Und jetzt", raffte Elah sich auf, "hab' ich einiges zu erledigen. Laß mich, bitte, allein, bis das besorgt ist." Und erhobenen Hauptes machte er kehrt und trat in das Haus.
Oben in ihrem Gemach verharrte Seraja eine Weile in ruhelosen Gedanken. Ob Elah wirklich seinen Entschluß, Malthas und ihren Bruder fortzuschicken, wahr machte? Wie oft schon hatte er in der Vergangenheit seine gute Absicht kundgetan und hatte dann, wenn es sie zu verwirklichen galt, schwächlich nachgegeben" Seraja kannte seine Unbeständigkeit, sie begriff, daß eine Nacht nicht genügte, solche Schwäche zu überwinden. Und doch hegte sie diesmal Hoffnung, ja sie war plötzlich fest davon überzeugt, daß sein guter Vorsatz durchdringen würde. Eine Woge tiefen Glücksgefühls durchflutete sie. Die zarte Filigrankette, die Elah ihr zur Verlobung geschenkt, kam ihr in den Sinn, sie suchte danach und fand sie endlich in einem vergessenen Kästchen, das sie in eine Schublade getan. Sie befestigte das kleine Goldkreuz an dem Kettchen und hängte es sich um den Hals.
In der Herberge machte sich der Alltag geltend, Kochtöpfe brodelten auf dem Herd, Gäste eilten in den Gängen hin und her, auf den Pflastersteinen des Hofes klapperten Pferdehufe. Waren diese Tage des Wunders je Wirklichkeit gewesen? Alles hätte ein Traum sein mögen, hätte nicht das Kreuz auf ihrer Brust gehangen. Doch für Seraja war es keinesfalls ein Traum. Im Geist sah sie die kleine Familie ihres Weges ziehen... Maria, Joseph und das Kind. Sie folgten dem Pfad, der ihnen vorbestimmt war, erduldeten Entbehrung und Verfolgung, um zu erfüllen, was der Himmel ihnen bestimmt hatte. Tränen feuchteten Serajas Augen, als sie des unsäglichen Glücks gedachte, mit dem sie das Kind in den Armen gehalten hatte. Großes wird ER vollbringen, dachte sie, und ich bin es gewesen, der IHN an dem Tage, da ER geboren wurde, sah und in meinen Armen hielt. Konnte jemals ein anderer, selbst in fernster Zukunft, die Süßigkeit dieses gesegneten Tages fühlen? Sie wußte es nicht, doch konnte sie das Kreuz in ihre Hand schließen und ein Gelübde tun: Jedes Jahr, solange ich lebe, will ich, mag ich auch der einzige Mensch auf Erden sein, der solches tut, die Geburt dieses Kindes feiern, und sooft ich sie feiere, werde ich Seligkeit auskosten. Und leise, im Selbstgespräch, als hütete sie einen Schatz, flüsterte sie den Namen, den Maria - so hatte sie gesagt - IHM geben würde.