Der Kopuk
DER KOPUK
von Berit EigenbrodKalle und Line-Kessi backen Plätzchen. Kalle ist acht und Line-Kessi ist fünf und Mama ist kurz rausgegangen zum Telefonieren. Das Radio dudelt Weihnachtslieder, die Line-Kessi begeistert mitsingt - irgendwie schief, aber furchtbar niedlich.
Auf dem Küchentisch liegen verschiedene Ausstechformen: Sterne, Nikoläuse, Tannenbäume und Herzen, mit denen die Kinder aus dem hellen Teig große und kleine Kekse machen. Sie legen sie auf ein eingefettetes Blech, mit genug Abstand, so hat Mama es ihnen gezeigt. Manchmal korrigiert Kalle, wenn Line-Kessi die Plätzchen zu dicht nebeneinander legt. "Pass auf! Die kleben sonst zusammen!"
Aber sie summt weiter ihre Lieder und lässt sich nicht vom großen Bruder stören. "Mit wem telefoniert Mama?" fragt sie. Mama ist schon eine ganze Weile draußen.
"Oma", antwortet Kalle, "oder Tante Suse."
"Hm", macht Line-Kessi. Das Backblech ist mittlerweile beinahe voll und Teig haben sie auch nicht mehr viel. Plötzlich fällt eine Ausstechform auf den Boden. Kalle steht auf und sucht unter dem Tisch danach. Er kann sie nicht finden.
"Unter der Küchenbank vielleicht", rät seine Schwester. Kalle streckt den Arm aus und tastet. Der Fußboden ist ein bisschen staubig. Er findet ein hartes Karamellbonbon, einen Knopf und eine Murmel. Und dann - etwas Weiches. Etwas Warmes. Etwas Struppiges!
Erschrocken zieht Kalle seine Hand zurück. "Line!" "Jaaa?" Line-Kessi krabbelt zu ihm unter den Tisch. "Hast du was gefunden?" "Da ist was unter der Bank!" "Was denn?"
"Ich weiß nicht! Fühl mal!" Kalle nimmt Line-Kessis Arm und lässt sie das Dunkel unter der Küchenbank abtasten. "Huch!" Da fühlt Line-Kessi es auch. Als sie die Hand wieder hervor zieht, hält sie darin eine kleine rote Zipfelmütze.
"Was ist das denn?" ruft Kalle.
"He!" tönt es plötzlich unter der Bank, "He, meine Mütze! Was fällt euch ein, was fällt euch bloß ein?"
Erschrocken sehen die Kinder sich an. Unter der Bank taucht auf einmal ein flaschengroßes Kerlchen mit einem weißen Bart und roter Wollkleidung auf. Es stemmt die Hände in die Hüften und guckt die Geschwister ein bisschen verkniffen an. "So, so", sagt es, "Das habt ihr euch wohl gedacht, mich rauszulocken, was? Kann ich vielleicht meine Mütze wiederhaben? Sofort, ja!"
Kalle und Line-Kessi starren das komische Männlein erstaunt an, das da auf einmal unter ihrer alten Küchenbank aufgetaucht ist. Sie sagen kein Wort. Mit großen Augen gibt Line-Kessi ihm langsam die Mütze zurück. Das Männlein zieht sie sich über Ohren und atmet auf. "Danke, das ist schon besser. Ohne meine Mütze bin ich nur der halbe Kopuk, müsst ihr wissen." sagt es nun freundlicher.
Kalle gibt ein "Hah?" von sich und Line-Kessi murmelt: "Was bist denn du für einer?" "Sag ich doch: ich bin der Kopuk!" antwortet das Männlein mit einem verschmitzten Grinsen.
"Nepomuk?" fragt Kalle. "Ach was! Kopuk, bloß Kopuk! Reicht euch das nicht? Ist doch ein schöner Name!" Kalle nickt schnell. "Bist du ein Wichtel?" fragt Line-Kessi. "Neugierig seid ihr!" schnauft der Kopuk. "Neugierig!" "Aber sag doch!" betteln die Kinder. "Arbeitest du für den Weihnachtsmann?"
"Das könnte man, ja, das könnte man so sagen, ich glaube schon." "Wirklich!" seufzt Line-Kessi. "Für den Weihnachtsmann! Du, kannst du ihm sagen, bei dem Laden gibt es eine Puppe, die hat ein blaues Kleid..."
"Und die willst du natürlich haben. Aber ich nehme keine Bestellungen an! Das musst du schon schriftlich erledigen." Line-Kessi guckt ein bisschen enttäuscht. "Ich kann gar nicht schreiben", sagt sie leise. "Sie geht noch nicht zur Schule", sagt Kalle.
Der Kopuk kratzt sich am Kinn, legt den Kopf schief und meint: "Ah, ich kann eine Ausnahme machen. Ich versuch's mir zu merken! Aber versprechen kann ich nichts!" Line-Kessi strahlt. "Danke!"
Kalle hat sein nachdenkliches Gesicht aufgesetzt. "Was machst du hier eigentlich in unserer Küche?" Der Kopuk stampft mit seinem kleinen Fuß auf. "Na hör mal, man wird sich ja wohl ein bisschen umgucken dürfen!" "Ob wir brav sind?" fragt Kalle vorsichtig. "Zum Beispiel", brummt der Kopuk, "Außerdem interessiere ich mich für... Kekse."
Line-Kessi stupst Kalle an und kichert. "Wir backen gerade welche!" "Ich weiß", sagt der Kopuk und leckt sich über die Lippen. "Und vielleicht habt ihr..." Die Küchentür geht auf. Sie sehen zwei schlanke Mama-Beine. "Kalle! Line-Kessi!" Mama kniet sich hin und entdeckt ihre Kinder unter dem Tisch. "Was soll das denn werden? Seid ihr etwa schon fertig mit den Plätzchen? Die sehen ja toll aus."
"Mama!" sagt Line-Kessi. Sie guckt dahin, wo der Kopuk eben noch stand. Aber der Kopuk ist weg. Mama schiebt das Backblech in den Ofen. "Kommt, lasst mich mal die Küche aufräumen. Geht ein bisschen raus." "Line!" flüstert Kalle.
"Wir legen ihm nachher einen Keks unter die Bank, ja?" Line-Kessi nickt und freut sich. Bald ist Weihnachten.