Weihnachten bei Martha und Maria

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von Marion Leineweber

"Oh, diese verflixte Hektik!" keuchte Martha und richtete sich stöhnend auf. Da kippte die Kommodenschublade, in der sie seit fünf Minuten nach einem bestimmten Bogen Geschenkpapier gesucht hatte, endgültig auf den Fußboden. Ärgerlich sah sie auf die Uhr. "Ich müsste schon seit zehn Minuten unterwegs sein, die Frauen werden schön schimpfen, wenn sie in der Kälte vor der Türe warten müssen." Sie begann, hastig alles vom Fußboden zu greifen und wieder in die Schublade zu stopfen.

"Dann werde ich das Geschenk für Frau Siebenbrück eben unverpackt überreichen. Immerhin, ein Bändchen kann ich noch drumlegen, vielleicht mit einem Tannenzweig und einem Strohsternchen ... Moment, die Strohsterne waren doch in der anderen
Schublade..." Eine zweite Stimme unterbrach ihre Gedanken: "Hier hast du deinen Strohstern, er lag direkt vor deinen Füßen!" Maria hielt den zerbrechlichen Stern in der Hand und legte Martha die Hand auf die Schulter. "Geh du jetzt mal lieber zu deinen Frauen. Die haben ja sonst keinen heute. Ich packe dir das Buch schnell ein und bringe es gleich nach. Und die Schublade räumen wir eben später auf."
Martha nickte dankbar und zog sich rasch ihren Mantel an; noch im Weggehen gab sie ihrer Schwester Anweisungen: "Stecke einen Tannenzweig mit dem Strohstern unter das Geschenkband, goldenes, hörst du! Und nimm das rotgoldene Papier! Das sieht freundlicher aus. Am besten packst du alles in eine Tüte, dann merkt keiner, dass du es mir nachgebracht hast. Und wenn du einkaufen gehst, denk an die Kerzen, keine blauen, sondern goldene! Und die Servietten habe ich passend dazu bestellt, sie sind cremefarben mit goldenen Tannen oder so ... Ach, ja, dann muss die Gans noch aufgetaut werden - ..."
"Nun geh schon endlich, die alten Damen erfrieren ja sonst!" Maria schob ihre Schwester mit sanfter Gewalt aus der Tür. Nun war sie wenigstens ein Zeitlang allein. Aufatmend schloss sie die Haustür. In einer Viertelstunde etwa würde das Kaffeetrinken im Senioren-Frauenkreis zu Ende gehen und das Programm mit Gedichten, Reden etc. beginnen, dann erst wurde das Geschenk benötigt. Genug Zeit für eine schöne, heisse Tasse Tee!
Bis das Wasser kochte, konnte sie das Buch noch rasch einpacken. Zum Glück war bei dem Schubladenabsturz das richtige Papier zum Vorschein gekommen. Bändchen, Tannenzweig und Stern waren ruckzuck befestigt und nun konnte Maria ihren dampfenden Tee genießen. Müde fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn. Die letzten Tage und Wochen vor Weihnachten waren immer der reinste Alptraum. Zuerst kamen die alljährlichen Listen! Maria hasste schon den Anblick, wenn Martha sich Ende September oder Anfang Oktober mit einem Notizblock, Stiften und ihrem "Weihnachtshektik-Blick" abends im Sessel zurechtsetzte. Es gab Listen, wer was bis wann erledigt haben musste; Listen für Gemeindefeier-Theaterstücke, Geschichten und Gedichte; Listen für Gäste, inklusive Speisevorlieben; Geschenklisten für die Familie, Freunde, aktive Gemeindeglieder, die Kindergottesdienstkinder, den Frauenkreis... es hörte gar nicht mehr auf zu "Listen"...
Ab dieser Zeit pflegten sich bei Maria die immer wiederkehrenden Träume einzustellen, in denen sie mitten in der großen Weihnachtsfeier der Familie irgend etwas wichtiges vergessen hatte. Mal lag der ganze Schmutz des Vorjahres unter dem Weihnachtsbaum, einmal hatte sie geträumt, dass die Geschenke fehlten und ein anderes Mal brach ihr der Schweiß aus, als sie feststellte, dass der Weihnachtsbaum selbst nicht vorhanden war. Und lauter solche wichtigen Sachen, die einfach nicht fehlen durften! Tja, die meiste Arbeit lag nun hinter ihnen. Das Haus samt Fenstern war geputzt und geschmückt; das Festessen lag vorbereitet im  Kühlschrank, die Geschenke für die Familie stapelten sich im Eckschrank und für die Gemeinde war nun auch alles fertig. Heute abend würden sie ganz gemütlich den Heiligen Abend mit ihren Lieben feiern können. Die letzten Kleinigkeiten musste sie gleich noch besorgen, aber nach dem Frauenkreis hatten sie nur noch für ihre Feier zu Hause zu sorgen. Naja, dann sind wir ja unter uns, da kann man sich dann endlich mal entspannen.
Sie schrak aus ihren Gedanken - jetzt muss ich aber los! Sonst regt sich Martha nur unnötig auf. -
Etliche Stunden später standen beide in der Küche, mit erhitzten Gesichtern, Maria bückte sich zum Backofen, um die Gans zu begutachten, während Martha die Kartoffeln aufsetzte. Dabei unterhielten sie sich über die Feier im Frauenkreis und die einsamen alten Damen. "Also, heute dachte ich wirklich, die letzten würden überhaupt nicht mehr nach Hause gehen. Es tut mir ja auch leid, dass sie alle keine Familie haben, aber wir haben hier ja noch genug zu tun, bis Lothar und Andreas mit ihren Familien kommen. - Hier, stell das mal auf die Fensterbank, zum abkühlen. Hast du den Pudding schon gerührt, du weißt, den für die beiden Kleinen. Ach nein, Susanne isst ja lieber Eis, dann haben wir auch weniger Arbeit. Und Marianne darf keine fette Soße essen, vielleicht rühre ich noch eine leichte Creme mit Joghurt? ... Oder sollen wir einfach stattdessen -"
"Mensch, Martha, jetzt ist aber Schluss! Dann isst Marianne die Kartoffeln eben trocken! Wir sind schließlich kein Restaurantbetrieb! Und das Essen ist doch nicht das Wichtigste!"
"Na gut, wenn du meinst. Alles andere ist ja auch fertig. Der Tisch sieht wirklich schön aus, so in Gold und Cremefarben! Richtig edel! Und das Weihnachtszimmer ist auch bereit. Hast du daran gedacht, die Geschenke für Edelgard in Umweltschutzpapier zu packen? Du weißt doch, dass sie soviel Wert darauf legt -" -- "Halt! Ich habe schon dran gedacht und wenn jetzt noch was fehlt -"

Die Türklingel unterbrach sie. Ihre Brüder mit Familien standen vor der Tür und begrüßten sie mit Umarmen, Küssen und allem, was dazu gehört. Letzte heimliche Päckchen wurden unter den Baum gelegt. Die Schwägerinnen brachten noch Salat, Dessert und Gebäck nach speziellen Rezepten mit. Die vier Kinder platzten mit ihren Fragen, wann denn endlich Bescherung wäre, in jedes Gespräch und hüpften voll Ungeduld herum. Es war wie ein kleiner Wirbelsturm, der sich erst nach dem Abendessen allmählich legte.
Dann kam der feierliche Einmarsch ins Weihnachtszimmer. Maria spielte ein Lied auf dem Klavier und mit leuchtenden Augen traten alle ein. Der Baum strahlte in festlichem Glanz, und die Geschenke lagen fein säuberlich  sortiert um ihn herum auf dem Teppich.
Kaum hatten alle Platz genommen, schlug Martha das erste Lied vor und teilte auch gleich die Liederbücher aus. Während des Singens sprang sie dreimal auf, um dem Ischiasgeplagten Lothar ein Kissen zu besorgen, eine flackernde Kerze zu stutzen und um dem verschnupften Neffen Oliver ein Taschentuch zu holen. Traditionsgemäß las der älteste Bruder, Andreas, die Weihnachtsgeschichte vor. Er las langsam, mit Betonung, von der guten Nachricht Gottes für die Menschen. Beim Zuhören hingen alle ihren eigenen Gedanken nach. Die Kinder waren im Geiste schon beim Auspacken der Geschenke, die Eltern dachten an ihre eigene Kindheit, Martha rutschte
unruhig hin und her, und Maria horchte ganz verwundert auf die Worte aus der Bibel, als hätte sie sie noch nie gehört. "...siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren..."
Ja, dachte sie, und mit einem tiefen Atemzug lehnte sie sich zurück, das ist das Wichtigste, Gott will uns Freude schenken! Und die gilt mir und allen anderen hier! "Der Heiland ist geboren."
Andreas beendete die Weihnachtsgeschichte mit einem kurzen Gebet und wollte dann zur Bescherung überleiten.
Martha war schon aufgestanden, um die Geschenke zu verteilen, aber da bat Maria ums Wort. Überrascht blickten alle zu ihr hin. "Ich ... ich möchte euch erzählen, was mir gerade durch den Kopf gegangen ist, als ich die Weihnachtsgeschichte zum ...ähm... 45ten Mal hörte. Wie ihr wisst, haben Martha und ich wie immer alles vorbereitet, damit wir gemeinsam das Fest feiern können. Dass damit eine Menge Arbeit verbunden ist, brauche ich euch nicht extra zu sagen und wir tun es auch gerne. Aber in all der Hektik der letzten Wochen haben wir... habe ich das Wichtigste vergessen. Über dem Putzen, Backen, Kochen, Geschenke aussuchen und verpacken, Baum kaufen und schmücken, Lieder und Gedichte für die ganzen Gemeindefeiern aussuchen usw. geriet ich fast in Panik, dass ich irgend etwas Wichtiges vergessen könnte.
Und am Ende hatte ich es wirklich vergessen." Sie blickte Martha an: "Und ich glaube, dir ging es genauso. Du arbeitest von früh bis  spät, um alles vollkommen zu machen. Du willst nichts und niemanden vergessen. Das ist sehr lieb von dir! Und doch ist unsere  Freude schon vollkommen! - Irgendwie habe ich das erst jetzt verstanden! Gott hat alles zu unserer Freude schon vollbracht! Es ist schön und wichtig, dass wir auch an andere denken und gern etwas für sie tun, aber dann muss die Zeit kommen, wo wir uns hinsetzen und selbst die Hände aufhalten. Sonst geht Gottes Geschenk an uns vorüber! - Der Heiland ist geboren! Durch ihn hat Gott uns einen Weg geschaffen, der uns aus aller Not und Angst und Hektik führt ... ich meine damit, heraus aus all dem, was uns quält und auffrisst." Die Kinder kicherten. "Ja, auffrisst! Ich jedenfalls habe manchmal das Gefühl, bei lebendigem Leibe gefressen zu werden von der Angst, nicht fertig zu werden, etwas falsch zu machen oder so... Aber nun habe ich das anders verstanden. Richtig verstanden! Gott schenkt uns Freude! Und er will, dass wir genießen, was er uns schenkt! - So, liebe Martha, jetzt setzt du dich mal
einfach hin und lässt dich bedienen. Heute wollen wir einmal unser Zusammensein genießen und sollte etwas fehlen, dann -" -- "Dann fehlt es eben!" ergänzte Lothar fröhlich, "Und wir werden es nicht vermissen! Und wenn die Geschenke ausgepackt sind, Maria, dann würde ich gerne noch einmal von dir hören, was du mit dem "Wichtigsten" gemeint hast. Gottes Geschenk soll schließlich nicht an mir vorübergehen!"