Weihnachten im Wildpark
von Annette Amrhein
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Jule wachte auf und wusste sofort: Es war Weihnachtstag! Heute erwartete sie viele wunderbare Dinge: Adventsmusik, Rascheln, Flüstern, Tannenduft und lecker riechenden Braten, leuchtende Kerzen und bunte Kugeln am Baum. Aber Jule wollte in diesem Jahr auch unbedingt eine neue Sache erleben: Die Tierbescherung im Wildpark.
Es sollte dort herrlich sein, hatte sie gehört. Drei Esel mit roten Mützen würden Säcke tragen, in denen Leckereien für die Tiere steckten und die Besucher dürften sie verteilen. Der Weihnachtsmann wäre auch dabei.
Schon seit Tagen hatte Jule ihre Eltern immer wieder gefragt, ob sie hinfahren würden. Die Antwort lautete: „Wenn es nicht regnet. Wenn es nicht glatt ist. Wenn alle gesund sind.“
An diesem Morgen sprang Jule also aus dem Bett und stürzte zuerst ans Fenster. Kein Regen. Sie lief nach unten und sah auf das Thermometer. Kein Minus, also konnte es doch nicht glatt sein. Ihre Mutter lachte und sagte: „Außerdem sind alle gesund, Jule. Er auch.“ Sie zeigte auf den kleinen Paul, der im Hochstuhl saß und auf einem Löffel kaute.
„Und die vier Grad? Ist das nicht zu kalt? Der Wildpark ist groß, da laufen wir bestimmt lange herum.“
„Oma hat uns doch letztes Jahr warme Skiunterwäsche geschenkt, obwohl wir gar nicht Skifahren. Jetzt wissen wir, wozu wir sie brauchen“, meinte Papa.
Jule zog also die Skiunterwäsche und darüber Hose und Pullover an, genau wie ihre Eltern, und dann frühstückten sie alle gemeinsam. Auf dem Tisch brannte eine Kerze und die gekochten Eier hatten rote Mützen auf.
„Wir müssen schnell essen, ich schwitze mich kaputt“, sagte Papa.
Also beeilten sie sich. Die Eier hatten Jule aber an etwas erinnert: Nach dem Essen holte sie rote Mützen für alle aus der Weihnachtskiste, auch für Paul. Jetzt waren sie perfekt ausgerüstet für den Wildpark!
Die Fahrt dauerte zum Glück nicht sehr lange, und so waren sie bald da, bezahlten Eintritt und liefen zum Startpunkt des Rundgangs.
„Guten Morgen!“, rief der Weihnachtsmann gerade, als sie ankamen. „Ich begrüße alle lieben Kinder und die ebenso lieben Eltern. Ihr seid doch alle lieb?“
„Ja“, riefen die Besucher.
„Böse Leute dürfen nämlich nicht zu unseren Schützlingen“, meinte er zwinkernd. „Herzlich willkommen zu unserer Tierweihnacht! Natürlich wissen die Tiere nicht, dass Weihnachten ist. Aber für uns Menschen ist es wichtig, dass man an Weihnachten an andere denkt. Und wer ein Tier hat, wird immer dafür sorgen, dass es zuerst gefüttert wird, bevor er selbst isst. Darum sind wir heute hier. Seht ihr unsere drei Eselchen?“
Ein kräftiges Ja erscholl.
„Sie haben die Säcke mit dem Futter. Sie heißen Floh, Jupp und Jule. Und jetzt gehen wir auch schon los!“
Der eine Esel hieß Jule? Genau wie sie! Das war ja was! Aber welcher? Das musste Jule wissen! Also beeilte sie sich, weiter nach vorn zu kommen und überholte alle Leute.
Ihre Eltern kamen mit dem Buggy und Paul darin natürlich nicht so schnell hinterher.
Jetzt hatte Jule die Spitze des Zugs erreicht und konnte sich die drei Tiere aus der Nähe ansehen. Zwei Esel waren hellbraun und einer sehr dunkel, fast schwarz. Die roten Mützen lagen nur lose auf ihren Köpfen.
„Hier machen wir einen Halt!“, rief der Weihnachtsmann. Sie waren am Wildschweingehege angekommen. „Wer mag, darf Mais über den Zaun werfen. Unsere Jule hat ihn auf dem Rücken. Na, wer hat Lust?“, fragte der Weihnachtsmann und zeigte auf den dunklen Esel.
Jetzt wusste Jule, welcher Esel ihren Namen trug. Sie musste ein bisschen warten, bis sie an der Reihe war, aber dann langte sie in den Maissack und schaute dabei der Esel-Jule in die Augen. Sie waren groß und glänzten. Um das Maul herum war das Fell weiß.
Jule hätte den Esel gern länger betrachtet, aber es drängten so viele Kinder nach, die auch ans Futter wollten. Also ging Jule zum Gatter und warf ihren Mais über den Zaun. Die Wildschweine schmatzen und grunzten. Jedes versuchte, möglichst viel Futter abzubekommen.
Da hörten sie, dass Papa sie rief: „Jule? Jule!“
Sie drehte sich um, schaute, woher die Rufe kamen. Sie entdeckte Papas winkenden Arm hinter vielen Leuten. Das dunkle Eselchen aber trottete los in seine Richtung. Jule kicherte. Ein Esel, der auf seinen Namen hörte? Das war ja was.
„So geht das nicht“, sagte der Weihnachtsmann. „Rufen sie unsere Esel nicht mit Namen. Esel haben gute Ohren und erkennen auch Wörter. Wer hat hier eben die Jule gerufen?“
„Ich habe nur meine Tochter gerufen“, antwortete Papa.
Alle lachten.
„Dann muss Ihre Tochter heute anders heißen“, rief der Weihnachtsmann ihm zu. „Hat sie vielleicht noch einen zweiten Vornamen?“
„Ja! Katarina!“
„Wo ist die Jule-Katarina?“
Jule meldete sich.
„Kann dein Papa dich heute nur Katarina nennen?“, fragte der Weihnachtsmann. Sie nickte und er rief Papa zu: „So machen wir es. Ihre Tochter heißt heute Katarina!“
Dann ging der Rundgang weiter. An den Wegrändern tauchten die ersten Feuerkörbe auf, die Flammen prasselten und zuckten und wärmten jeden, der einen Moment anhielt und sich in ihre Nähe stellte.
Jule fror nicht. Sie hatte ja die superwarme Unterwäsche an, viel Bewegung und so viele Eindrücke, dass sie Mama, Papa und Paul fast vergaß.
Sie sah Otter, die schnell durchs Wasser schossen und Fischfilet erhaschten. Manche kamen ans Ufer und stellten sich auf die Hinterbeine, andere lagen im Wasser auf dem Rücken wie Boote und hielten ihre Beute mit den Pfoten fest.
Auch Jule warf ihnen Fressen zu. Sie holte Möhren, Äpfel und Rüben aus den Säcken und fütterte Hirsche und Rehe. Sie beobachtete Schafe und Ziegen, Dachse, Mufflons, die Wölfe im Gehege, als ihnen vom Pfleger Fleisch zugeworfen wurde. Sie hätte stundenlang den Waschbären zusehen können.
Doch dann zupfte sie ein Mädchen am Mantel und sagte: „Dein Papa hat dich eben dauernd gerufen, Du hast nicht gehört. Aber fünf andere Katarinas. Ich zum Beispiel. Jedes Mal hab ich gedacht, ich bin gemeint.“
Jule lachte und antwortete: „Ach je, das hab ich wohl überhört.“
„Deine Eltern sitzen da hinten auf der Bank“, sagte das Mädchen und ging wieder. Jule lief zu ihnen. Sie gaben Paul gerade warmen Kakao.
Mama sagte: „Ich könnte auch etwas Warmes vertragen. Der Weihnachtsmann erzählt gleich eine Geschichte am Lagerfeuer und es gibt Kekse und heiße Getränke. Wollen wir da hin?“
„Au ja!“, sagte Jule. Sie fand, das hatte sie sich wirklich verdient! Alle Tiere waren inzwischen bestimmt satt geworden.
Als sie den Weihnachtsmann vorn an der Spitze des Zuges wiederfand, saß eine Eule auf seiner Schulter. Jule starrte sie an und konnte es kaum glauben. Wie im Märchen!
Dann spürte sie ein Stupsen am Bein und sah die dunkle Eselin neben sich. Jule streichelte ihr Fell und spürte, dass in einem der Futtersäcke noch eine Karotte übrig geblieben war.
„Oh, du hast das Futter getragen und bist selbst vergessen worden“, sagte sie und hielt der Esel-Jule die Karotte hin. Sie knabberte sofort daran.
Als sie dann endlich am Lagerfeuer angekommen waren, stimmte einfach alles für Jule: Die Wärme der Flammen, der heiße Kakao, die vielen anderen Menschen mit ihren zufriedenen Gesichtern. Nur die Eule mochte kein Feuer und flog davon. Es roch hier im Wald nach Tannennadeln, Rauch und Erde. Vom Eingang des Wildparks glommen Laternen und Lampen zwischen den Zweigen und rote Mützen leuchteten überall um Jule herum.
„Jetzt fängt Weihnachten an“, sagte sie, kuschelte sich zwischen ihre Eltern und freute sich auf die Geschichte, die der Weihnachtsmann gleich erzählen würde. Und auf das Fest zuhause.
Die Geschichte ist aus dem Buch von Annette Amrhein, welches als E-Book auf Amazon erhältlich ist