Die Geschichte von Rut - Weihnachten ohne Josef

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Von Marcel Maack

Es nieselte ununterbrochen, und es schien, als wollte es den ganzen Tag über nicht richtig hell werden. Das Thermometer bewegte sich um null Grad herum. Ein halbes Grad weniger, und aus dem Regen würden feine Schneeflocken, dachte Rut, während sie durchs Fenster nach draußen sah. Läge Schnee, würde es draußen viel heller und freundlicher aussehen. So aber sah alles nur düster aus. Nass, aufgeweicht, dunkel.

So finster wie draußen war es auch in Ruts Seele...

Genau einen Monat war es nun her, dass ihr Mann Josef von ihr gegangen war. Morgens, nach dem gemeinsamen Frühstück, war es passiert. Josef hatte sich müde gefühlt und sich deshalb noch einmal ins Bett gelegt. Ein zusätzliches Stündchen Schlaf wollte er sich gönnen, das würde ihm sicherlich gut tun, hatte er sich gesagt. Sein Radiowecker hatte 8.50 Uhr angezeigt, er hatte den Alarm entsprechend auf 9.50 Uhr eingestellt. Doch das Klingeln um Zehn vor Zehn, Josef hörte es nicht mehr. Sein Herz hatte mitten im Schlaf aufgehört zu schlagen. Am 24. November, exakt einen Monat vor Heiligabend...

Josef war 78 Jahre alt geworden. In der Familie, welcher er entstammte, waren alle weit über 80 geworden, deshalb hatte Rut stets angenommen, auch Josef würde noch einige Jahre vor sich haben. Doch es war anders gekommen...

Rut knöpfte ihren Mantel zu, setzte ihren Hut auf, griff nach dem Regenschirm und verließ das Haus. Der Blumenladen, den sie aufsuchen wollte, lag auf dem Weg zum Friedhof, ungefähr auf halber Höhe.

Rut suchte ein Blumengesteck aus, das sowohl Regen als auch Schnee halbwegs trotzen würde. Dann verließ sie das Geschäft und bemerkte, dass der Nieselregen noch dichter geworden war. Sie blickte auf ihre Armbanduhr: 11.25 Uhr. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, erst abends zu Josefs Grab zu gehen - eben dann, wenn der Heilige Abend angebrochen wäre. Dann jedoch war ihr der Gedanke gekommen, dass es um jene Zeit bereits stockdunkel sein würde. Deshalb hatte sie entschieden, lieber schon gegen Mittag auf den Friedhof zu gehen.

Rut erreichte die Friedhofsmauer. Sie öffnete das schwere, eiserne Tor, betrat das Gelände. Vorsichtig schloss sie das Tor hinter sich wieder. Sie wusste: Würde sie es von selbst zufallen lassen, es gäbe ein Scheppern. Das jedoch wollte sie unbedingt vermeiden. Auf keinen Fall wollte sie die Ruhe der Toten stren.

Es befand sich nur wenig Grabschmuck auf Josefs Ruhestätte. Das lag daran, dass die Zwei nur einen sehr kleinen Bekanntenkreis und keinerlei Verwandte mehr hatten. Sie selber hatten nie Kinder bekommen, auch wenn sie sich damals, als sie noch jung waren, nichts sehnlicher gewünscht hatten als einen Sohn oder eine Tochter. Gott allein wusste, warum er ihnen keine Kinder geschenkt hatte, das hatten sie sich bis ins hohe Alter hinein gesagt und sich auf diese Weise getröstet.

Rut blieb vor dem Grab ihres Mannes stehen. Sie fing an, zu Josef zu sprechen. Sie tat es im Stillen. Rut war überzeugt, dass Josef sie hörte. Anschließend sprach sie ein Gebet zu Gott. Sie blieb noch eine Weile still stehen, und schließlich hockte sie sich nieder und legte das Gesteck ab. "Ich hoffe, du hast ein schönes Weihnachtsfest, mein lieber Josef! Ich wünschte, du säßest bei mir im Wohnzimmer und wir könnten gemeinsam die Tannenbaum-Kerzen anzünden, so wie wir es all die Jahre immer gemacht haben. Aber ich weiß, es soll nicht sein. Gott hat anderes mit dir vor. Ich denk' an dich, mein Schatz!"

Rut erhob sich wieder. Da sah sie, wie sich just in diesem Moment ein paar Meter weiter ebenfalls eine alte Dame erhob. Die beiden nickten einander zu, und plötzlich begann die andere Frau, auf Rut zuzugehen. "Eine neue Grabstätte... Ihr Mann ist erst kürzlich verstorben?", fragte die Frau. - "Heute vor genau einem Monat", antwortete Rut und zeigte auf die Inschrift des Grabsteines. - "Mein Johannes ist vor zwei Jahren gestorben", sagte die andere Frau, "seitdem sitze ich allein vorm Tannenbaum. Ich habe leider keine Verwandten mehr." - Rut sprach: "Ich habe auch keine Verwandtschaft. Mir wird es heute Abend genauso gehen wie Ihnen - bloß dass es für mich das erste Mal ist."

Die andere Frau überlegte einen Moment, dann sagte sie: "Schräg gegenüber vom Friedhof befindet sich ein kleines Cafe'. Ich trinke dort, nachdem ich meinen Johannes hier besucht habe, gelegentlich einen Espresso. Möchten Sie mich vielleicht dorthin begleiten?"

Ein Lächeln glitt über Ruts Gesicht, und sie antwortete: "Das würde mir sicherlich gut tun. Wir kennen uns zwar gar nicht, aber ja, ich komme gern mit!"

Die Geschichte stammt aus dem Buch "Kleine & große Weihnachtswunder - Neue Lesegeschichten zur Festzeit" von Marcel Maack.

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