Von der Freundschaft der Menschen in Shanghai

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von Joe Federer
eingeschickt von Michaela Nühnen

Einmal habe ich eine Zeit lang in China gelebt. Da war niemand, mit dem ich befreundet war und der sich darum kümmerte, wie mir zumute war. Ich kam mir ganz verloren vor in diesem Meer von fremden Gesichtern.
Ich wohnte bei Europäern, die chinesische Diener hatten. Der oberste von ihnen war der Koch Ta-Tse-Fu, der große Herr der Küche. Er redete gebrochen deutsch und war der Dolmetscher zwischen mir und dem Zimmer-Kuli, dem Ofen-Kuli, dem Wäsche-Kuli und was es sonst noch an Dienerschaft im Hause gab.

- Heiliger Abend -
und ich saß wieder einmal verheult in meinem Zimmer. Da überbrachte mir Ta-Tse-Fu ein Geschenk. Es war eine chinesische Kupfermünze mit einem Loch in der Mitte, und durch das Loch waren viele bunte Wollfäden gezogen und dann zu einem Zopf zusammengeflochten."Eine sehr alte Münze", sagte der Koch feierlich, "und die Wollfäden gehören auch Dir. Die Wollfäden sind von mir und meiner Frau, vom Zimmer-Kuli und seiner Schwester, von den Eltern und dem Bruder des Ofen-Kuli, von uns allen sind die Wollfäden."Ich bedankte mich sehr. Es war ein merkwürdiges Geschenk - und noch merkwürdiger als ich dachte...
Denn als ich die Münze mit ihrem bunten Zopf einem Bekannten zeigte, der seit vielen Jahren in China lebte, erklärte er mir, was es damit für eine Bewandtnis hatte: Jeder Wollfaden war eine Stunde des Glücks. Der Koch war zu seinen Freunden gegangen und hatte sie gefragt: "Willst Du von dem Glück, das Dir für Dein Leben vorausbestimmt ist, eine Stunde des Glücks abgeben?"
Der Ofen-Kuli und Zimmer-Kuli und Wäsche-Kuli und ihre Verwandten hatten für mich, für die fremde Europäerin, einen Wollfaden gegeben als Zeichen, daß sie mir von ihrem eigenen Glück eine Stunde des Glücks schenkten. Es war ein großes Opfer, das sie brachten. Denn wenn sie auch bereit waren, auf eine Stunde zu meinen Gunsten zu verzichten - es lag nicht in ihrer Macht, zu bestimmen, welche Stunde aus ihrem Leben es sein würde. Das Schicksal würde entscheiden, ob sie die Stunde abtraten, in der ihnen ein reicher Verwandter sein Hab und Gut verschrieben hätte oder ob es nur eine der vielen Stunden sein würde, in der sie glücklich beim Reiswein saßen; ob sie eine Glückstunde wegschenkten, in der das Auto, das sie sonst überfahren hätte, noch rechtzeitig bremste oder die Stunde, in der das junge Mädchen vermählt worden wäre.Blindlings und doch mit weit offenen Augen machten sie mir, der Fremden, einen Teil ihres Lebens zum Geschenk.

Von diesem Tag an habe ich mich in China zu Hause gefühlt. Und die Münze mit dem bunten Wollzopf hat mich jahrelang begleitet.
Eines Tages lernte ich jemanden kennen, der war noch übler dran als ich damals in Shanghai. Und so habe ich einen Wollfaden genommen, ihn zu den anderen Wollfäden dazugeknüpft - und habe die Münze weitergegeben.