Weihnacht in Bagdad

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von Günther Fuchs

Lange schon hat sich Andreas auf diese Weihnachten gefreut - sehr lange, denn seit vier Jahren hat er seinen Vater bereits nicht mehr gesehen. Als seine Eltern sich vor vier Jahren trennten, hat ihn seine Mutter mit zurück nach Bagdad genommen - zurück in die Stadt, in der sie geboren wurde. Sein Vater war Deutscher, seine Mutter Irakerin - er selbst war vor zwölf Jahren in Hamburg auf die Welt gekommen. Es war zwar eine große Umstellung für ihn, als er mit acht Jahren hierher in den Irak gekommen war, aber inzwischen hat er einige Freundinnen und Freunde gefunden und sich recht gut eingelebt.
Heuer nun sollte er endlich wieder seinen Vater sehen - die ganzen Jahre über hatte er mit ihm Briefe gewechselt, auch von Zeit zu Zeit telefoniert - und nun endlich sollte es so weit sein, daß er ihn wieder sehen würde. "Weihnachten!" dachte er - "Weihnachten, das Fest der Liebe und der Familie, wie es in einer Woche in Europa überall gefeiert wird! Endlich sind wir wieder zu Weihnachten beisammen - endlich feiern wir wieder wie eine Familie!". Wehmütig erinnerte er sich daran, wie es war damals in Deutschland - wie seine Großeltern am Heiligen Abend zu Besuch gekommen sind, seine beiden Stiefschwestern mit ihnen allen gemeinsam unter dem Weihnachtsbaum "Oh du fröhliche" gesungen haben.
Er erinnerte sich auch daran, wie sie dann auf dem Schoß des Großvaters sitzen durften und mit den Fingern in seinem langen weißen Bart spielten - genauso wie daran, daß seine Eltern glücklich Arm in Arm hinter ihnen standen und ihnen beim Spielen zu sahen. Vor allem aber erinnerte er sich an seinen Vater, der zu Weihnachten immer zu Hause war und nicht arbeiten ging.
Während er so gedankenverloren in der warmen Sonne spazieren ging, denn in Bagdad war es ja nicht richtig Winter, im Gegenteil - um die 20 Grad Celsius waren die Tagestemperaturen - und immer noch über Null in der Nacht! Während er so durch die Straßen schlenderte, in denen viele Kinder spielten und Händler geschäftig ihre Waren anpriesen, erinnerte er sich an die Weihnachten der letzten drei Jahre zurück. Nur seine Mutter und er hatten sie gefeiert, denn die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hier ist ja mohammedanisch - und die feiern ja kein Weihnachten, kein christliches Fest! Doch seine Mutter wollte ihm die Erinnerung und die Freude an diesem Fest nicht nehmen - auch wenn sie ihm natürlich keinen Tannenbaum für Weihnachten hin stellen konnte, den Inhalt des Festes haben sie in jedem Jahr geteilt.
Gemeinsam haben sie sich erinnert, wie vor knapp zweitausend Jahren dieser wundersame Mensch auf der Erde geboren wurde - und all die faszinierenden Geschichten, die über seine Geburt und die Wunder damals erzählt wurden. Wie die Könige aus Ländern wie diesem und den benachbarten Ländern auf ihren Kamelen quer um die Erde reisten, immer einem Stern folgend, der sie zu dem Stall in Betlehem führte, wo das kleine Jesuskind in der Krippe lag. Gemeinsam haben sie dann das Fest der Liebe gefeiert - einander umarmt und Geschenke gemacht, die nicht viel kosteten aber mit Liebe gebastelt oder ausgesucht wurden. Und gemeinsam haben sie dann die halbe Nacht gespielt - Spiele, die sie noch aus Deutschland mitgebracht haben, wie z.B. "Mensch, ärgere dich nicht" oder auch Kartenspiele.
Wunderschön waren diese Abende, auch wenn er dann immer ein wenig Heimweh bekam - Heimweh nach seinem Vater, den er gerade zu Weihnachten besonders vermißte - aber auch Heimweh nach der Kälte, dem Schnee und den Weihnachtsbäumen, nach den Lichterketten in den Straßen und den Auslagen - und auch nach den Freundinnen und Freunden, die gemeinsam überlegten, wie sie denn dieses Jahr ihren Eltern eine Freude machen könnten.
Schon vor einigen Tagen hatte er natürlich seinen Brief an das Christkind fertig gemacht, obwohl er genau wußte, diesen Brief würde seine Mutter öffnen und lesen. Er hatte ohnehin nur ganz einfache Wünsche aufgeschrieben - "Gerne würde ich auch einmal wieder meinen Vater sehen" oder "Bitte sorge dafür, daß meine Mutter gesund bleibt, damit wir gemeinsam feiern können.". Alles Wünsche, wie sie eben nur das Christkind erfüllen kann - denn das neue Fahrrad hatte er schon gesehen, als er es mit seiner Mutter gemeinsam kaufen war.
Während ihm all dies durch den Kopf ging, hörte er plötzlich die Sirenen heulen - die Luftschutzsirenen, die er schon einmal gehört hatte, damals, als die Amerikaner Bomben auf Bagdad fallen ließen, als sie den Krieg begonnen hatten, der noch immer Hunger und Leid in Bagdad bewirkt. Angsterfüllt sah er in den Himmel - und wirklich, ganz hinten am Horizont erblickte er sie wieder, die Flieger, die den Tod und die Vernichtung bedeuteten. Die Angst packte ihn noch mehr, als er sah, daß die Flugzeuge genau auf ihn zu hielten - genau auf das große Gebäude hinter ihm, in dem die Regierung saß.
Nahezu wie gelähmt sah er in den Himmel, in dem die Punkte immer größer und größer wurden - unfähig, sich zu bewegen, doch plötzlich verließ ihn die Starre und mit einem Mal begann er zu laufen - zu rennen, wie er noch nie zuvor in seinem jungen Leben gerannt war. Weggewischt waren die Gedanken an Weihnachten - weggewischt die Erinnerung an seinen Vater, das einzige, was jetzt noch für ihn zählte, war die Angst um sein Leben. So schnell er konnte lief er in Richtung nach Hause - dort, wo seine Mutter ihm den Keller gezeigt hatte, in dem er sich verstecken solle, falls wieder einmal Bomben auf Bagdad abgeworfen würden.
Immer schneller und schneller lief er, eine Ecke nach der anderen verschwand zwischen ihm und dem Regierungsgebäude - als er plötzlich ein lautes Donnern und Krachen hinter sich vernahm. Nur wenige Augenblicke später packte ihn plötzlich eine Sturmwelle von hinten, die ihn mit heißer Luft und Staub vermischt nach vorne wirbelte. Er wurde von den Füßen gerissen, durch die Luft geschleudert und landete - wie durch ein Wunder - mitten in einem großen, weichen Haufen vor einem der Kamelraststätten in der Stadt. Schmerzhaft verzog er das Gesicht und blickte auf seinen Arm, der vor lauter Schürfwunden schon blutrot war - doch hinter sich hörte er wieder ein Donnern nach dem anderen, eine Bombe nach der anderen explodierte und brachte Tod und Vernichtung über die Stadt.
Rasch stand er auf, humpelte zwar leicht aber beeilte sich, wieder weiter weg zu kommen. Wenige Minuten nach dieser ersten Bombe war er endlich zu Hause angelangt - viele Stunden schien ihm der Weg lange, doch endlich hatte er ihn hinter sich gebracht. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Türe - doch dann blieb er voller Panik stehen - denn hinter der Eingangstüre war plötzlich nicht der Gang, der ihn zur Wohnung seiner Mutter bringen konnte, sondern einfach ein riesiges Loch und ein Haufen Schutt.
Hatte er eben einfach nur Angst gehabt, so änderte sich sein Empfinden nun schlagartig - Panik erfüllte ihn, seine Gedanken überschlugen sich, als er daran dachte, daß seine Mutter noch vor wenigen Stunden hier hinter dieser Türe war und Wäsche gewaschen hatte. Verzweifelt versuchte er, in dem Haufen Schutt und Staub etwas zu finden - etwas zu erkennen, doch die Bombe hatte offenbar ganze Arbeit geleistet. Nichts war mehr geblieben - nichts war erkennbar, es schien, als ob er alleine wäre hier in diesem Haufen Schutt und Staub - alleine in einem Land, das eigentlich nicht seine Heimat war - alleine mit dem Krieg, der wieder begann, alleine mit dem Weihnachtsfest - dem Fest, das eigentlich für Liebe steht, aber hier sicher nicht gefeiert würde, und nun auch alleine ohne seine Mutter, dem einzigen Menschen, den er schon länger als ein paar Monate kannte und der auch seine Sprache sprechen konnte - der ihn liebte, und der ihm ein Weihnachten geben konnte .....

Entstanden ist diese Geschichte während der US Angriffe auf Bagdad - Anlaß war ein Chatter, der ganz "geil" auf diese "Star Wars Kriegsspiele im Fernsehen" war und nicht bedachte, daß in Bagdad Menschen sterben und 14 Tage vor Weihnachten Menschen um Ihr "zu Hause" gebracht werden....

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